Gedichte und Texte Erich Mühsams

Gedichte und Texte Erich Mühsams

An dem kleinen Himmel meiner Liebe

An dem kleinen Himmel meiner Liebe
will ­ mich dünkt ­ ein neuer Stern erscheinen.
Werden nun die andern Sterne weinen
an dem kleinen Himmel meiner Liebe?

Freut euch, meine Sterne, leuchtet heller!
Strahlend steht am Himmel, unverrücklich
eures jeden Glanz und macht mich glücklich.
Freut euch, meine Sterne, leuchtet heller!

Kommt ein neuer Stern in eure Mitte,
sollt ihr ihn das rechte Leuchten lehren.
Junge Glut wird euer Licht vermehren,
kommt ein neuer Stern in eure Mitte.

An dem kleinen Himmel meiner Liebe
ist ein Funkeln, Glitzern, Leuchten, Sprühen.
Denn ein neuer Stern beginnt zu glühen
an dem kleinen Himmel meiner Liebe.

Folg mir in mein Domizil

Folg mir in mein Domizil,
liebes Kind, und frag nicht viel.
Wirst schon alles lernen,
wirst schon alles sehn,
liest nicht in den Sternen,
was dir heut noch alles kann für Heil geschehn.

Stehst herum in Nacht und Wind.
Komm! Bei mir ist’s warm, mein Kind.
Geb dir einen Taler,
koch dir ein Glas Tee.
Einen Emmentaler
essen wir selbander auf dem Kanapee.

Bleibst bei mir bis früh am Tag.
Geht dann jeder, wo er mag.
Ich zum Redaktöre,
du, wohin dich’s treib.
Morgen küßt, ich schwöre,
dich mein guter Nachbar, mich des Nachbars Weib.

Frühlingserwachen

Wieder hat sich die Natur verjüngt,
wieder sich mit frischem Stoff gedüngt,
und dem Moder wie den jungen Keimen
hat die Kunst zu malen und zu reimen.
Die Gebeine harren der Bestattung,
währenddem die Früchte der Begattung
fröhlich ins Bereich des Lebens ziehn ­
insoferne sie soweit gediehn.
Viech- und Menschern heben sich die Büsen;
in den Bäumen quillt’s und den Gemüsen.
Tief im Kern der Erde hat’s gekracht:
Ja, der Früh-, der Frühling ist erwacht.

Du gingst mit mir …

Du gingst mit mir. Der niedre Himmel drohte
und kroch geduckt von allen Seiten näher.
Am Wege lag ein Felsenhund, ein Späher
mit plattem Bauch und vorgeschobener Pfote.
Entglänzte Sterne stierten feucht und faul
und husteten aus alterssiecher Lunge.
Krankleuchtend aus zerfetztem Wolkenmaul
hing gelb der Mond, des Himmels geile Zunge.. .
Du gingst mit mir. Fern gurgelte das Meer.
Dem Saum der Welt entglitten Feuerzeichen.
Wir fühlten feucht die Nachtluft uns umschleichen
und stapften vor der Angst des Lebens her,
auf unsern letzten Daseinsmut bedacht,
daß er das bleiche Graun des Spuks besiegte. ­
Doch vor uns düsterte ein Baum zur Nacht,
der sehr bedenklich seine Wipfel wiegte.

Du hast mich fortgeschickt…

Du hast mich fortgeschickt, und ich geh heim.
Die Gaslaternen blinzeln frech und schielen.
Im Rinnstein drängt sich dicker Straßenschleim.
Zufrieden tropfend gluckst es in den Sielen.

In einem Seitenweg verhallt ein Schritt,
leicht und beschwingt, als käm er vom Genießen.
Studenten torkeln mir vorbei zu dritt,
die Zeitungsblätter auf die Stöcke spießen.

Ich tu mir leid. Mein Schmerz stimmt mich vergnügt,
heißt mich auf alle Ärgernisse achten,
ob gegen dich sich draus ein Vorwurf fügt
und die, die im Kaffeehaus mit dir lachten.

Wart! Morgen sprechen wir uns schon dafür.
Mein Ingrimm wird sich zu entladen wissen.
Da bin ich ­ öffne zögernd deine Tür ­
und küsse weinend deine leeren Kissen.

Hinter den Häusern heult ein Hund

Hinter den Häusern heult ein Hund.
Denn die Schatten der Nacht sind bleich und lang;
und des Meeres Herz ist vom Weinen wund; ­
und der Mond wühlt lüstern im Tang.

Durch Morgennebel streicht hastig ein Boot,
die Segel schwarz, wie vom Tod geküßt.
Die Flut faucht salzig näher und droht…
Bang knarrt der Seele morsches Gerüst.

Es stand ein Mann am Siegestor

Es stand ein Mann am Siegestor,
der an ein Weib sein Herz verlor.
Schaut sich nach ihr die Augen aus,
in Händen einen Blumenstrauß.
Zwar ist dies nichts Besunderes.
Ich aber ­ ich bewunder es.

Erziehung

Der Vater zu dem Sohne spricht:
Zum Herz- und Seelengleichgewicht,
zur inneren Zufriedenheit
und äußeren Behaglichkeit
und zur geregelten Verdauung
bedarf es einer Weltanschauung.
Mein Sohn, du bist nun alt genug.
Das Leben macht den Menschen klug,
die Klugheit macht den Menschen reich,
der Reichtum macht uns Herrschern gleich,
und herrschen juckt uns in den Knöcheln
vom Kindesbein bis zum Verröcheln.
Und sprichst du: Vater, es ist schwer.
Wo nehm ich Geld und Reichtum her?
So merk: Sei deines Nächsten Gast!
Pump von ihm, was du nötig hast.
Sei’s selbst sein letzter Kerzenstumpen ­
besinn dich nicht, auch den zu pumpen.
Vom Pumpen lebt die ganze Welt.
Glück ist und Ruhm auf Pump gestellt.
Der Reiche pumpt den Armen aus,
vom Armen pumpt auch noch die Laus,
und drängst du dich nicht früh zur Krippe,
das Fell zieht man dir vom Gerippe.
Drum pump, mein Sohn, und pumpe dreist!
Pump anderer Ehr, pump anderer Geist.
Was andere schufen, nenne dein!
Was andere haben, steck dir ein!
Greif zu, greif zu! Gott wird’s dir lohnen.
Hoch wirst du ob der Menschheit thronen!

Heilige Nacht

Geboren ward zu Bethlehem
ein Kindlein aus dem Stamme Sem.
Und ist es auch schon lange her,
seit’s in der Krippe lag,
so freun sich doch die Menschen sehr
bis auf den heutigen Tag.
Minister und Agrarier,
Bourgeois und Proletarier ­
es feiert jeder Arier
zu gleicher Zeit und überall
die Christgeburt im Rindviehstall.
(Das Volk allein, dem es geschah,
das feiert lieber Chanukah.)

Ewiges Diesseits

Löscht die Lichter aus auf den Altären!
Nicht in Kirchen und in Synagogen
sucht den Gott, noch hinter Himmelsschleiern.
Wo der Perlschaum quirlt auf Meereswogen,
wo der Wind kämmt über blonden Ähren
und im Bergschnee mögt ihr Andacht feiern.

Besser noch: am eignen Feuerherde,
in der Einung mit dem nackten Weibe
laßt euch heilige Weihe überkommen.
Wenn die Seele eins wird mit dem Leibe
und die Stunde zeitlos auf der Erde,
dann erzeugt ihr Gott in euch, ihr Frommen!

Alles keimt zugleich und blüht und schwindet.
Wenn ihr Wein trinkt, sollt ihr schon die Reben
für die neue Ernte reifen wissen.
Diesseits, irdisch ist das ewige Leben!
Was den Menschen an die Menschheit bindet,
wird von keinem Tode je zerrissen.

Golgatha

Gebeugte Menschen mit stumpfem Blick
hocken in dumpfen Spelunken ­
den Neid im Auge, die Not im Genick,
von elendem Fusel trunken.
Da tönt eine Stimme von außen herein:
„Kopf hoch! Ihr seid nicht verloren.
Ich füll eure Becher mit goldenem Wein.
Auch euch ist der Heiland geboren.
Heraus ins Freie und folgt mir nach,
wo Schätze liegen!“
Die Stimme des Mannes, der also sprach,
hat plötzlich geschwiegen.
Ein Scherge führt ihn gefesselt fort.
Den Menschen aber da drinnen
klingt seiner Rede lockendes Wort
wie ferner Traum in den Sinnen.
Sie senken den Kopf auf des Tisches Brett
und trinken mit heiserem Lachen…
Ein Jude zog aus von Nazareth,
die Armen glücklich zu machen.

Gesichte

Es raschelt gleich dem Geistern einer Fledermaus
im Nachtwind, der gefallnes Laub bestattet ­
und in den Lüften wispern totumschattet
des Nebels Stimmen: Not und Haß und Graus
verkünden Blut.
Es kreißt der Erde höllenträchtiger Bauch,
sich platzend zu befrei’n von mörderischen Wehen,
zu löschen nicht ­ nein, zu entflammen rote Glut. ­
Spritz aus, gedunsener Schlauch,
spritz aus die Tat! Die Welt verdurstet nach Geschehen…
Gespenster ziehn. Ich wittre in die Zukunft schreiten
Herolde mächtiger Begebenheiten.

Der Mahner

Wo bleibt ihr nur, Genossen meiner Zeit?
Ich schau zurück und kann euch kaum noch sehn.
Ein wirres Stimmentosen hör ich weit,
weit hinter mir und kann es nicht verstehn.

Ich ruf euch zu, doch euerm Echo fehlt
der Laut, der rein aus meiner Stimme klingt.
Ich wink euch her. Doch ihr, wie unbeseelt,
horcht tauben Ohrs, ob euch ein Stummer singt.

Vergebne Zeichen! Aus den Zähnen pfeift
mißtönig euer ärgerlicher Spott.
Kommt nie die Zeit, da ihr die Zeit begreift?
Tritt nie aus finstern Kirchen euer Gott?

Der Mahner

Wo bleibt ihr nur, Genossen meiner Zeit?
Ich schau zurück und kann euch kaum noch sehn.
Ein wirres Stimmentosen hör ich weit,
weit hinter mir und kann es nicht verstehn.

Ich ruf euch zu, doch euerm Echo fehlt
der Laut, der rein aus meiner Stimme klingt.
Ich wink euch her. Doch ihr, wie unbeseelt,
horcht tauben Ohrs, ob euch ein Stummer singt.

Vergebne Zeichen! Aus den Zähnen pfeift
mißtönig euer ärgerlicher Spott.
Kommt nie die Zeit, da ihr die Zeit begreift?
Tritt nie aus finstern Kirchen euer Gott?

Elegie im Kriege

Lieder sing ich, seit ich denke,
weil mein Herz empfindsam ist
und den Spender der Geschenke
im Genießen nicht vergißt.
Doch sie haben mich vergessen,
denen ich mein Lied beschert.
Niemand lebt auf Erden, dessen
Seele meines Sangs noch wert.
Heldentaten zu vollbringen
ist kein Lob in dieser Zeit:
Disziplin heißt sie vollbringen,
Angst gebiert die Tapferkeit.
Liebe, die das Herz beseligt,
zupft an keiner Leier mehr.
Haß ersetzt sie. Haß befehligt.
Haß ist Heil und Pflicht und Wehr.
Niemals kehrt die Freude wieder
und das Licht, das uns umgab.
Still versinken auch die Lieder
in der Menschheit Massengrab.

Die Pfeife

Wusch ich mich schon vor einem Jahr
zum letzten Mal mit Seife,
so ward jetzt auch der Tabak rar.
Schwarz gähnt das Maul der Pfeife.
Ein kalter Ruch ­ Erinnerungswahn ­
entdünstet trüb dem Rachen.
Die taubste Nuß, der hohlste Zahn
kann nicht so traurig machen.
Der Tabakbeutel schlaff und leer
rutscht grämlich durch die Hände.
Kein lustig blaues Wölkchen mehr
belebt die kahlen Wände.
Wo ist der Qualm, der mir im Raum
die fade Luft gesäuert,
der mich umwirkt mit süßem Traum,
den Genius mir befeuert?
Wo ist das braune Zauberkraut,
das alle Grillen bannte?
Verbraucht, verschmaucht, verraucht, verdaut ­
dahin ins Unbekannte! …
Da liegt er nun, der Pfeifenkopf,
ein Anblick zum Erbarmen,
und wartet, daß ihn jemand stopf.
Es hilft dir nichts, dir Armen.
So ging’s dem Vaterlande auch.
Jetzt habt ihr die Erfahrung:
Erst hochgepafft den dicken Rauch,
und nachher fehlt’s an Nahrung.
Die Seife schmolz dahin zu Schaum;
jetzt wäscht man sich mit Speichel
und raucht das Laub vom Lindenbaum
mit kleingeriebener Eichel.
Vertan, verpulvert, aufgezehrt,
was unser war alltäglich. ­
Lieb Vaterland, jetzt heißt’s: entbehrt! ­
Der Rest ist arm und kläglich.
Wie viele Wochen, Tage noch
hält sich der Rest im Sacke?
Schon sickert er durchs Hungerloch
gleich meinem Rauchtabake…
Was ward aus dir, lieb Vaterland?
Des eigenen Ruhms Attrappe,
ein ausgeblasenes Ei im Sand,
ein Siegesaar aus Pappe.
Herausgesogen bis zum Grund
der letzte Lebenstropfen ­
ein leergebrannter Pfeifenschlund ­­
und nichts mehr nachzustopfen.

Gesang der jungen Anarchisten

Freiheit! mahnt es aus den Grüften,
die der Vorzeit Kämpfer decken.
Freiheit! lockt es aus den Lüften,
die der Zukunft Stürme wecken.
Daß aus Ahnung Freiheit werde,
haltet, Künftige, euch bereit.
Reinigt die entweihte Erde ­
helft ans Licht der neuen Zeit!

Freie Menschen sollen wohnen,
wo gequälte Sklaven schleichen,
Menschen, die aus allen Zonen
Gruß und Trunk einander reichen.
Von Gesetzen nicht gebunden,
ohne Herrn und ohne Staat ­
frei nur kann die Welt gesunden,
Künftige, durch eure Tat!

Jugend, sammle deine Scharen,
kämpfend Zukunft zu erstreiten.
Wer das Leben will erfahren,
lasse sich vom Tod begleiten.
Künftige! Im heiligen Ahnen
lechzt die Welt nach Glück und Licht.
Mahnend wehn die schwarzen Fahnen:
Freiheit ist der Jugend Pflicht!

Der Revoluzzer

(Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet)

War einmal ein Revoluzzer,
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: „Ich revolüzze!“
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus,
zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
schrie: „Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn‘ das Licht ausdrehen,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Laßt die Lampen stehn, ich bitt! ­
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!“

Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.

Bürgers Alpdruck

Was sinnst du, Bürger, bleich und welk?
Hält dich ein Spuk zum Narren?
Nachtschlafend hörst du im Gebälk
den Totenkäfer scharren.
Er wühlt und bohrt, gräbt und rumort,
und seine Beine tasten
um Säcke und um Kasten.

Horch, Bürger, horch! Der Käfer läuft.
Er kratzt ans Hauptbuch eilig.
Nichts, was du schwitzend aufgehäuft,
ist seinen Fühlern heilig.
Der Käfer rennt. Der Bürger flennt.
In bangen Angstgedanken
fühlt er die Erde wanken.

Ja, Bürger, ja ­ die Erde bebt.
Es wackelt deine Habe.
Was du geliebt, was du erstrebt,
das rasselt jetzt zu Grabe.
Aus Dur wird Moll, aus Haben Soll.
Erst fallen die Devisen,
dann fällst du selbst zu diesen.

Verzweifelt schießt die Bürgerwehr
das Volk zu Brei und Klumpen.
Ein Toter produziert nichts mehr,
und nichts langt nicht zum Pumpen.
Wo kein Kredit, da kein Profit.
Wo kein Profit, da enden
Weltlust und Dividenden.

Hörst, Bürger, du den Totenwurm?
Er fährt durch Holz und Steine,
und sein Geraschel weckt zum Sturm
des Leichenvolks Gebeine.
Ein Totentanz macht Schlußbilanz
und schickt dich in die Binsen
samt Kapital und Zinsen.

Der Gefangene

Ich hab’s mein Lebtag nicht gelernt,
mich fremdem Zwang zu fügen.
Jetzt haben sie mich einkasernt,
von Heim und Weib und Werk entfernt.
Doch ob sie mich erschlügen:
Sich fügen heißt lügen!

Ich soll? Ich muß? ­ Doch will ich nicht
nach jener Herrn Vergnügen.
Ich tu nicht, was ein Fronvogt spricht.
Rebellen kennen beßre Pflicht,
als sich ins Joch zu fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Der Staat, der mir die Freiheit nahm,
der folgt, mich zu betrügen,
mir in den Kerker ohne Scham.
Ich soll dem Paragraphenkram
mich noch in Fesseln fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Stellt doch den Frevler an die Wand!
So kann’s euch wohl genügen.
Denn eher dorre meine Hand,
eh ich in Sklavenunverstand
der Geißel mich sollt fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Doch bricht die Kette einst entzwei,
darf ich in vollen Zügen
die Sonne atmen ­ Tyrannei !
Dann ruf ich’s in das Volk: Sei frei!
Verlern es, dich zu fügen!
Sich fügen heißt lügen!

Geschonte Kraft

Ihr Toren meint, der Kämpfer und Verächter
sei müde und besiegt ins Knie gesunken,
verlöscht sei seines Zornes heller Funken
vom rohen Fußtritt der Gesetzespächter.

Wahr ist’s: er ballt die Fäuste nicht dem Wächter;
speit keinen Schimpf: ihr Mörder, ihr Halunken!
Und blößt nicht seinen Rücken martertrunken
den Geißelhieben unter Hohngelächter.

Ein stiller Mann. Und doch: ihr Toren irrt.
Er braucht sich seinen Mut nicht zu befeuern,
indem er laut mit seinen Ketten klirrt.

Im Gegenteil: bemüht, den Klang zu dämpfen,
wird ihm sein Eisen das Gelenk nicht scheuern,
und stark erhält er seinen Arm zum Kämpfen.

Die Pflicht

Jüngst war der Tod bei mir zu Gast…
Unsichtbar stand er und hat still
und prüfend meinen Puls gefaßt,
als fragt er, ob ich folgen will.
Da ward mein Körper schwebend leicht,
und in mir ward es licht und rein.
Ich spürte: Wenn das Leben weicht,
muß Seligkeit und Süße sein.
Willkommner Tod, du schreckst mich nicht;
in deiner Obhut ist es gut,
wo Geist und Leib von aller Pflicht
von Kerkerqual und Ängsten ruht …
Von aller Pflicht? Stirbt denn mit mir
der Krieg, das Unrecht und die Not?
Des Armen Sucht, des Reichen Gier-
sind sie mit meinem Ende tot?
Ich schwur den Kampf. Darf ich ihn fliehn?
Noch leb ich ­ wohlig oder hart.
Kein Tod soll mich der Pflicht entziehn ­
und meine Pflicht heißt: Gegenwart!

Herbstmorgen im Kerker

Wenn morgens über Gras und Moor
sich weißlich-trüb der Nebel bauscht,
unfroher Wind mit müdem Stoß
im dürren Laub des Herbstes rauscht;
wenn eiterig der fahle Tau
von welken Blütenresten tränt,
des Äthers dichtverquollenes Grau
dem neuen Tag entgegengähnt ­
und du, gefangen Jahr um Jahr,
gräbst deinen Blick in Dunst und Nichts:
da wühlt die Hand dir wohl im Haar,
und hinter deinen Augen sticht’s.
Du starrst und suchst gedankenleer
nach etwas, was du einst gedacht,
bis endlich, wie aus Fernen, schwer
das Wissen um dein Selbst erwacht.
Du musterst kalt das Eisennetz,
das dich in deinen Kerker bannt;
in dir erhebt sich das Gesetz,
zu dem dein Wille sich ermannt:
Treu sein dem Werk und treu der Pflicht,
der Liebe treu, die nach dir bangt;
treu sein dir selbst, ob Nacht ­ ob Licht,
dem Leben treu, das dich verlangt! …
Aus jedem Morgen wird ein Tag,
und wie die Sonne einmal doch
durch Dunst und Schleier drängen mag,
so bleibt auch dir die Hoffnung noch. ­
Im Nebel dort schläft Zukunftsland.
Du drehst den Kopf zurück und blickst
an der gekalkten Zellenwand
zu deines Weibes Bild. Und nickst.

Freiheit in Ketten

Ich sah der Menschen Angstgehetz;
ich hört der Sklaven Frongekeuch.
Da rief ich laut: Brecht das Gesetz!
Zersprengt den Staat! Habt Mut zu euch!
Was gilt Gesetz?! Was gilt der Staat?!
Der Mensch sei frei! Frei sei das Recht!
Der freie Mensch folgt eignem Rat:
Sprengt das Gesetz! Den Staat zerbrecht! ­
Da blickten Augen kühn und klar,
und viel Bedrückte liefen zu:
Die Freiheit lebe! Du sprichst wahr!
Von Staat und Zwang befrei uns du! ­
Nicht ich! Ihr müßt euch selbst befrein.
Zerreißt den Gurt, der euch beengt!
Kein andrer darf euch Führer sein.
Brecht das Gesetz! Den Staat zersprengt! ­
Nein, du bist klug, und wir sind dumm.
Führ uns zur Freiheit, die du schaust! ­
Schon zogen sie die Rücken krumm:
O sieh, schon ballt der Staat die Faust! …
Roh griff die Faust mir ins Genick
des Staats: verletzt sei das Gesetz!
Man stieß mich fort. ­ Da fiel mein Blick
auf Frongekeuch und Angstgehetz.
Im Sklaventrott zog meine Schar
und schrie mir nach: Mach dein Geschwätz,
du Schwindler, an dir selber wahr!
Jetzt lehrt der Staat dich das Gesetz! ­­
Ihr Toren! Schlagt mir Arm und Bein
in Ketten, und im Grabverlies
bleibt doch die beste Freiheit mein:
die Freiheit, die ich euch verhieß.
Man schnürt den Leib; man quält das Blut.
Den Geist zwingt nicht Gesetz noch Staat.
Frei, sie zu brechen, bleibt mein Mut ­
und freier Mut gebiert die Tat!

Appell an den Geist

Wir Menschen sind geschaffen, in Gesellschaft miteinander zu leben; wir sind aufeinander angewiesen, leben voneinander, beackern miteinander die Erde und verbrauchen miteinander ihren Ertrag. Man mag diese Einrichtung der Natur als Vorzug oder als Benachteiligung gegenüber fast allen anderen Tieren bewerten: die Abhängigkeit des Menschen von den Menschen besteht, und sie zwingt unsern Instinkt in soziale Empfindungen. Sozial empfinden heißt somit, sich der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Menschen bewußt sein; sozial handeln heißt im Geiste der Gemeinschabt wirken.
Dies ist der Konflikt, in den die Natur uns Menschen gestellt hat: daß die Erde von unseren Händen Arbeit fordert, um uns ihre Früchte herzugeben, und daß unser Wesen bestimmt ist von Faulheit, Genußsucht und Machthunger. Wir wollen Nahrung, Behausung und Kleidung haben, ohne uns dafür anstrengen zu müssen; wir wollen, fern von der Pein quälender Notwendigkeiten, beschaulich genießen; wir wollen Macht ausüben über unsere Mitmenschen, um sie zu zwingen, uns unsre heitere Notentrücktheit zu sichern. Den Ausweg zu finden aus dieser Diskrepanz: das ist das soziale Problem aller Zeiten.
Nie hat sich eine Zeit kläglicher mit dem Problem abgefunden als unsere. Der kapitalistische Staat, das traurigste Surrogat einer sozialen Gesellschaft, hat im Namen einer geringen, durch keinerlei geistige oder menschliche Eigenschaften ausgezeichneten Minderheit die Macht über die gewaltige Mehrzahl der Mitmenschen okkupiert, indem er sie von der freien Benutzung der Arbeitsmittel ausschließt. Sein einziges Machtmittel ist Zwang; gezwungene Menschen beschützen in gedankenloser Knechtschaffenheit Faulheit und Genuß der privilegierten Machthaber. Wild, sinnlos, roh, von keinem Brudergefühl gebändigt toben die Menschen gegeneinander. Was sie als Macht erstreben, ist nüchterner Besitz an materiellen Gütern. Der Kampf aller gegen alle ist kein Ringen um den Preis der Schönheit, der inneren Freiheit, der Kultur, ­ sondern eine groteske Balgerei um die größte Kartoffel. Auf der einen Seite Hunger, Elend, Verkommenheit; auf der anderen Seite geschmackloser Luxus, plumpe Kraftprotzerei, schamlose Ausbeutung. Und all das chaotische Getümmel verstrickt in einem stählernen Netz von Gesetzen, Verordnungen, Drohungen, die die bevorzugte Minderheit schuf, um ihrer Gewaltherrschaft das Ansehen des Rechts zu geben.
Eine verlogene Ethik hat das Wissen um Wahrhaftigkeit und Rechtlichkeit vergiftet. Rabulistische Advokatenlogik hat den guten, reinen und wahren Begriff der Freiheit zum Popanz autoritärer Marktschreier verdreht. Die Verständigung der Menschen beschieht im Kauderwelsch der Politik; der Wille der Menschen beugt sich unter abstrakte Paragraphen, das Rückgrat der Menschen paßt sich verkrümmten Uniformen an.
Geknebelt ist der Gedanke, das Wort und die Tat, ­ geknebelt selbst die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Die Seele des Menschen ist dem Staate beamtet, und der Geist der Menschen schläft im Schutze der Obrigkeit.
Kein Knirschen der Wut stört die Hast der Geschäfte. Der Lärm geht um den Profit; kein Stöhnen der Verzweiflung übertönt ihn. Wer aber warnend seine Stimme hebt, wer Menschen sucht, um mit ihnen zu bauen, aufzurichten das Werk der Freiheit, der Freude und des Friedens, dem gellt das Lachen ins Ohr derer, die sich nicht stören lassen wollen, derer, die Tritte empfangen und um sich treten, das Hohnlachen der Philister.
Welche Ansicht der Mensch von den Dingen der Menschen haben darf, ist vom Staate abgestempelt. Einzelne Einrichtungen des Staates, besondere Maßnahmen darf er kritisieren, benörgeln, beschimpfen. Aber wehe dem, der der Fäulnis der Gesellschaft in die Tiefe leuchtet. Er ist verfemt, geächtet ausgestoßen. An Mitteln fehlt es den Philistern nicht, ihn unschädlich zu machen: sie haben ihre „öffentliche Meinung“, sie haben die Presse. Wohl eifern auch die Organe der verschiedenen Parteien gegeneinander; wohl tuten auf der Jagd nach dem Profit in den Gefilden der öffentlichen Meinung die Hörner am lautesten und am schrillsten. Aber darin sind sie einig: der freie Gedanke, das freie Wort, die freie Sehnsucht darf keine Stätte haben in ihrem Revier. Ein breiter Graben zieht sich durch ihrer aller Lager; und in dem fließt der Strom, mit dem wir schwimmen müssen.
Hoch über den Ebenen, in denen die Philister einander in die Seiten puffen, ragt die Burg, darin der Geist wohnt. Der Literat und der Künstler wenden den Blick degoutiert ab vom Gewimmel der Menge. Was schert es sie, wie Hinz den Kunz übers Ohr haut ! Dem Bettler, der am Weg die Drehorgel leiert, gibt man mildtätig einen Groschen und geht seines Weges. Zu ihnen hinauf, in die Domänen der Kultur darf der Dunst des Alltags nicht steigen. Die Nase zu vor den Ausdünstungen des Volks! Den Blick empor zu den reinen Höhen der Geistigkeit.
Lächelnd spottet man bei den ästhetischen Gelagen über den Snob, der auf die Tribüne steigt und die Massen aufruft zum Kampf gegen Gewalt und Ausbeutung, für Recht und Freiheit. Ein Sensationshascher und Reklameheld ­ im besten Falle ein verrannter Narr, dem es schon recht geschieht, wenn man ihn ignoriert und boykottiert. Was geht ihn die soziale Not des Volkes an?! …
Der Künstler, der sich allem, was die Umwelt angeht, so hoch überlegen dünkt, ist ein Philister. Seine bequeme Zufriedenheit hat nichts Erhabenes, sondern nur etwas Verächtliches. Er verschließt die Augen vor dem Elend, in dem er selbst bis an die Knöchel watet, und macht sich damit für die Behörden zum Erwünschtesten aller Staatsbürger.
Aber gerade der Künstler hätte tausendmal Grund, wütend aufzubegehren gegen die Schändlichkeiten unseres Gesellschaftsbetriebes. Sein Werk steht ­ und das muß so sein ­ jenseits der Marktbewertung. Unter den Zuständen, die uns umgeben, ist es daher überflüssig, wertlos, unnütz und mithin lächerlich oder gefährlich. Der Kunstler selbst gilt ­sofern er nicht als Kapitalist andere Menschen für sich arbeiten läßt ­ als Schmarotzer, als Schädling, als Verkehrsstörung. Soll ihn seine Kunst ernähren, so muß er sie dem verrotteten Geschmack des Banausentums unterordnen, und er verkommt menschlich und künstlerisch. ­ Hat er aber die Mittel zum Leben, produziert er, wozu es ihn treiht, so bleibt sein Werk den Mitmenschen fremd, und die höchste Freude des Schaffenden, mit seiner Arbeit Menschenseelen zu erfrischen und zu erhellen, bleibt ihm versagt.
Aber er ist ja Esoteriker. Ihm genügt ja die Anerkennung der wenigen, derer, die „reif“ sind für seine Kunst, die gleich ihm dem Spektakel des Lehens fernestehen. Ach, Schwätzerei! ­Das ist eine matte, blutleere, dürftige Kunst, die nicht getränkt ist vom warmen roten Zustrom der lebendigen Wirklichkeit. Nur das sind noch immer die Zeiten der Kultur gewesen, in denen Geist und Volk eins waren, in denen aus den Werken der Kunst und des Schrifttums die Seele des Volkes leuchtete.
Ihr törichte Einsame, die ihr wähnt, oben in euern Ateliers andre, freiere Luft zu atmen als die Masse auf den Plätzen der Städte! Auch ihr eßt auf euerm Kothurn das Brot, das Menschenhände gesäet, Menschenhände gebacken, Menschenhände euch gereicht haben. Tut nicht, als wäret ihr Besondere! Seid Menschen! Habt Herz!
Und besinnt euch auf die Unwürdigkeit eurer Existenz! ­ Ihr, die ihr Werke schafft, aus denen der Geist unsrer Zeit in die Zukunft flammen soll, sorgt, daß eure Werke nicht lügen! ­Helft Zustände schaffen, die wert sind, in herrlichen Taten der Kunst und der Dichtung gepriesen zu werden! Täuscht der Nachwelt nicht Bilder vor, die das jämmerliche Grau unsrer Tage in Gold malen! Seid keine Philister, da Ihr allen Anlaß habt, Rebellen zu sein!
Paria ist der Künstler, wie der letzte der Lumpen! Wehe dem Künstler, der kein Verzweifelter ist! Wir, die wir geistige Menschen sind, wollen zusammenstehen ­ in einer Reihe mit Vagabunden und Bettlern, mit Ausgestoßenen und Verbrechern wollen wir kämpfen gegen die Herrschaft der Unkultur! Jeder, der Opfer ist, gehört zu uns! Ob unser Leib Mangel leidet oder unsre Seele, wir müssen zum Kampfe blasen! ­ Gerechtigkeit und Kultu ­ das sind die Elemente der Freiheit! ­ Die Philister der Börse und der Ateliers, zitternd werden sie der Freiheit das Feld räumen, wenn einmal der Geist sich dem Herzen verbündet!

Dichter und Kämpfer

Unrühmlich ist es, jung zu sterben.
Mein Tod wär sträflicher Verrat.
Ich bin der Freiheit ein Soldat
und muß ihr neue Kämpfer werben.

Und kann ich selbst die Schlacht nicht lenken,
seh selbst nicht mehr das bunte Jahr,
so soll doch meine Bundesschar
im Siege meines Rufs gedenken.

Drum will ich Mensch sein, um zu dichten,
will wecken, die voll Sehnsucht sind,
daß ich im Grab den Frieden find
des Schlafes nach erfüllten Pflichten.

Lumpenlied

Kein Schlips am Hals, kein Geld im Sack.
Wir sind ein schäbiges Lumpenpack,
auf das der Bürger speit.
Der Bürger blank von Stiebellack,
mit Ordenszacken auf dem Frack,
der Bürger mit dem Chapeau claque,
fromm und voll Redlichkeit.

Der Bürger speit und hat auch recht.
Er hat Geschmeide gold und echt. ­
Wir haben Schnaps im Bauch.
Wer Schnaps im Bauch hat, ist bezecht,
und wer bezecht ist, der erfrecht
zu Dingen sich, die jener schlecht
und niedrig findet auch.

Der Bürger kann gesittet sein,
er lernte Bibel und Latein. ­
Wir lernen nur den Neid.
Wer Porter trinkt und Schampus-Wein,
lustwandelt fein im Sonnenschein,
der bürstet sich, wenn unserein
ihn anrührt mit dem Kleid.

Wo hat der Bürger alles her:
den Geldsack und das Schießgewehr?
Er stiehlt es grad wie wir.
Bloß macht man uns das Stehlen schwer.
Doch er kriegt mehr als sein Begehr.
Er schröpft dazu die Taschen leer
von allem Arbeitstier.

Oh, wär ich doch ein reicher Mann,
der ohne Mühe stehlen kann,
gepriesen und geehrt.
Träf ich euch auf der Straße dann,
ihr Strohkumpane, Fritz, Johann,
ihr Lumpenvolk, ich spie euch an. ­
Das seid ihr Hunde wert!

Ich möchte Gott sein …

Ich möchte Gott sein und Gebete hören
und meine Schutz versagen können
und Menschenherzen zunichte brennen
und Seelenopfer begehren.
Und möchte Erde, Welt und All vernichten
und Trümmerhaufen über Trümmer schichten.
Dann müßte ein Neues entstehn ­
und das ließ ich wieder vergehn.

Ich bin ein Pilger

Ich bin ein Pilger, der sein Ziel nicht kennt;
der Feuer sieht und weiß nicht, wo es brennt;
vor dem die Welt in fremde Sonnen rennt.

Ich bin ein Träumer, den ein Lichtschein narrt;
der in dem Sonnenstrahl nach Golde scharrt;
der das Erwachen flieht, auf das er harrt.

Ich bin ein Stern, der seinen Gott erhellt;
der seinen Glanz in dunkle Seelen stellt;
der einst in fahle Ewigkeiten fällt.

Ich bin ein Wasser, das nie mündend fließt;
das tauentströmt in Wolken sich ergießt;
das küßt und fortschwemmt ? weint und froh genießt.

Wo ist, der meines Wesens Namen nennt?
Der meine Welt von meiner Sehnsucht trennt?
Ich bin ein Pilger, der sein Ziel nicht kennt.

Im Bruch

Fest zugeschnürt der Hosengurt.
Der Darm ist leer, der Magen knurrt.
Auf morschem Rock glänzt Fleck bei Fleck.
Darunter starrt das Hemd von Dreck.
Aus Pfützen schlürft das Sohlenloch.
Wer pumpt mir noch? Wer pumpt mir noch?
Wer pumpt mir einen Taler noch?

Kein Geld, kein Schnaps, kein Fraß, kein Weib.
In mürben Knochen kracht der Leib.
Die Nacht ist kalt. Es kratzt das Stroh.
Die Laus marschiert, es hupft der Floh.
Die Welt ist groß, der Himmel hoch.
Wer pumpt mir noch? Wer pumpt mir noch?
Wer pumpt mir einen Taler noch?

Noch einen einzigen Taler nur:
für einen Schnaps! Für eine Hur!
Für eine Hur, für eine Braut!
Das Leben ist versaut! versaut!
Nur einen Taler! Helft mir doch!
Wer pumpt mir noch? Wer pumpt mir noch?
Wer pumpt mir einen Taler noch?

Mädchen mit den krummen Beinen

Mädchen mit den krummen Beinen,
wie dein Dackel schief im Gang,
glätte mir dein weißes Leinen.
Grade will dein Wuchs mir scheinen,
liegst du lang.

Deine Haut, die fleckig, kreidig,
dir verunziert Stirn und Wang,
rötet sich und wird geschmeidig
und dein Borstenhaar wird seidig,
liegst du lang.

Dein Organ ist wie der Spatzen
kreischend krächzender Gesang.
Komm auf schwellende Matratzen!
Wohllaut wird dein heisres Kratzen,
liegst du lang.

Ich zog einmal ein liebes Kind

Ich zog einmal ein liebes Kind
in meine Mannesarme.
Da ward es ganz von Liebe blind
und frei von allem Harme.
Doch als ich eine andre nahm,
hat es sie schwer getroffen.
Es standen ihr vor Leid und Gram
die beiden Augen offen.
Und ward sie vorher nur gewahr
in meinem Kuß der Reinheit,
jetzt ward ihr plötzlich offenbar
nur Sünde und Gemeinheit.
O Mensch, vertrau den Menschen nicht
in liebevoller Blindheit.
Das Unheil schlägt dir ins Gesicht
mit seltsamer Geschwindheit.
Die Freuden fallen insgesamt
dir in das trübste Wasser.
Und wie mein Mädchen mich verdammt,
wirst du zum Menschenhasser.

Produktion

Denk ich zurück an meine frühsten Wochen:
Ich sog an hochgeblähten Ammenbrüsten,
von guten Tanten liebevoll berochen,
die zahnlos schnalzend den Popo mir küßten.
Doch was ich dann in stiller Reflexion
in meiner Wiege Windeltuch verrichtet,
mich mühsam reckend mit gestrafften Beinen,
das ward ­ des Kindes ganze Produktion ­
in Seifenzubern und an Wäscheleinen
hinweggespült, getrocknet und vernichtet…
Das Kind ward groß. ­ Das Unglück wollt’s: es dichtet.
Nun stehn um mich die Hinzen und die Kunzen
und fühlen zum Bewundern sich verpflichtet ­
und warten: wird der Pegasus nicht brunzen?
Doch was sich dann in stiller Reflexion
herausgequält und aufs Papier ergossen,
das lassen sie in hohlen Schädelfässern
verschmalzen, dann vertrocknen und verwässern ­
und meinen dabei: So wird Kunst genossen. ­­
Mensch, hüte dich vor jeder Produktion!

Kracht der Topf in Scherben

Kracht der Topf in Scherben,
fliegt er auf den Dung.
Menschlein, du mußt sterben,
bist du noch so jung.
Blumen müssen welken,
und die Kuh verreckt,
die wir heut noch melken,
daß der Eimer leckt.
Steine selbst zerfallen,
Länderspur verwischt.
Ton und Klang verhallen,
und das Licht erlischt.
Welten gehn in Stücke
ohne Rest und Spur.
Ewig lebt die Tücke‘,
lebt das Unheil nur.

O Mitmensch, willst du sicher sein

O Mitmensch, willst du sicher sein
in deinem Treiben und Getue,
so schau in Nachbars Kämmerlein,
in Nachbars Bett, in Nachbars Truhe.
Und wie er’s hält und wie er’s macht,
richt deinen Wandel ein desgleichen,
auf daß der Nachbar in der Nacht
getrost darf in dein Zimmer schleichen.
So wirst du in der Sympathie
der Zeitgenossen wohl bestehen,
und niemand braucht als Schweinevieh
und Lumpen scheel dich anzusehen.
Nur das Besondere mißfällt,
das Eigne und Originale.
Ein kluger Mitmensch aber hält
sich allezeit an das Normale.

Lebensregel

An allen Früchten unbedenklich lecken;
vor Gott und Teufel nie die Waffen strecken;
Künftiges mißachten, Früheres nicht bereuen;
den Augenblick nicht deuten und nicht scheuen;

dem Leben zuschaun; andrer Glück nicht neiden;
stets Spielkind sein, neugierig noch im Leiden;
am eigenen Schicksal unbeteiligt sein ­
das heißt genießen und geheiligt sein.

Jeden Abend werfe ich

Jeden Abend werfe ich
eine Zukunft hinter mich,
die sich niemals mehr erhebt ­
denn sie hat im Geist gelebt.
Neue Bilder werden, wachsen;
Welten drehn um neue Achsen,
werden, sterben, lieben, schaffen.
Die Vergangenheiten klaffen. ­­
Tobend, wirbelnd stürzt die Zeit
in die Gruft. ­­ Das Leben schreit!

Ich weiß von allem Leid…

Ich weiß von allem Leid, fühl alle Scham
und möchte helfen aller Kreatur.
Der Liebe such ich aus dem Haß die Spur,
dem Menschenglück den Weg aus Not und Gram.
Den Trostbedürftigen geb ich Wort und Rat,
den Haltbedürftigen reich ich meine Hand.
Doch keiner war noch, der mein Wort verstand,
und keiner, der die Hand ergriffen hat.
Ich weiß vom Leide nur, fühl nur die Scham ­
und kann doch selber nicht Erlöser sein,
wie jener Jesus, der die ganze Pein
der Welt auf seine schwachen Schultern nahm.

Ich wollt das Lied des Herzens nicht verschweigen

Ich wollt das Lied des Herzens nicht verschweigen.
Ich wollt es jubelnd zu den Menschen schmettern,
die bleich am Baume der Erkenntnis klettern,
das Glück vermutend in den kahlen Zweigen.

Ich wollt sie rufen zu den breiten Küsten,
an die des Meeres Wellen silbern schlagen.
Ich wollt sie lehren leichte Schultern tragen
und freien Sinn in übermüt’gen Brüsten.

Ich stoß ins Horn. Noch einmal. ­ Doch ich staune:
die Menschen lachen, die ich wecken wollte,
als ob ein Mißton in die Lüfte rollte. ­
Es muß ein Sandkorn sein in der Posaune.

Nach all den Nächten, die voll Sternen hingen

Nach all den Nächten, die voll Sternen hingen,
nun diese dumpfe, trübe, nasse Nacht,
als wär die Arbeit aller Zeit vollbracht
und niemals wieder Hoffnung auf Gelingen.

Wohin die Schritte weisen, da das Ziel
ertrank im nebeligen Grau der Wege?
Ich such nur noch, wo ich mich niederlege,
den stillen Platz. Verloren ist das Spiel.

Ich höre vieler Menschen Schritte tasten ­
verirrte Menschen, einsam, müd und arm ­
und keiner weiß, wie wohl ihm wär und warm,
wenn wir einander bei den Händen faßten.

Kleiner Roman

Sie lernte Stenographin.
Er war Engros-Kommis.
Im Speisewagen traf ihn
ein Blick. Er liebte sie.

Auf einer Haltestelle
brach man die Reise ab,
woselbst er im Hotelle
sie als sein Weib ausgab.

Nicht viel, das man sich fragte.
Doch küßten sie genug.
Und als der Morgen tagte,
ging schon der nächste Zug.

Nach einer kurzen Stunde
fand ihre Fahrt den Schluß.
Er nahm von ihrem Munde
noch einen heißen Kuß.

Er sah sie schnupftuchwinkend
noch stehn zum letztenmal,
und in sein Auge blinkend
sich eine Träne stahl.

Er soll sie heut noch lieben.
Sie war so drall und jung.
Ihr ist ein Kind geblieben
und die Erinnerung.

Kriegslied

Sengen, brennen, schießen, stechen,
Schädel spalten, Rippen brechen,
spionieren, requirieren,
patrouillieren, exerzieren,
fluchen, bluten, hungern, frieren …
So lebt der edle Kriegerstand,
die Flinte in der linken Hand,
das Messer in der rechten Hand ­
mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland.

Aus dem Bett von Lehm und Jauche
zur Attacke auf dem Bauche!
Trommelfeuer ­ Handgranaten ­
Wunden ­ Leichen ­ Heldentaten ­
bravo, tapfere Soldaten!
So lebt der edle Kriegerstand,
das Eisenkreuz am Preußenband,
die Tapferkeit am Bayernband,
mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland.

Stillgestanden! Hoch die Beine!
Augen gradeaus, ihr Schweine!
Visitiert und schlecht befunden.
Keinen Urlaub. Angebunden.
Strafdienst extra sieben Stunden.
So lebt der edle Kriegerstand.
Jawohl, Herr Oberleutenant!
Und zu Befehl, Herr Leutenant!
Mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland.

Vorwärts mit Tabak und Kümmel!
Bajonette, Schlachtgetümmel.
Vorwärts! Sterben oder Siegen
Deutscher kennt kein Unterliegen.
Knochen splittern, Fetzen fliegen.
So lebt der edle Kriegerstand.
Der Schweiß tropft in den Grabenrand,
das Blut tropft in den Straßenrand,
mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland.

Angeschossen ­ hochgeschmissen ­
Bauch und Därme aufgerissen.
Rote Häuser ­ blauer Äther ­
Teufel! Alle heiligen Väter! …
Mutter! Mutter!! Sanitäter!!!
So stirbt der edle Kriegerstand,
in Stiefel, Maul und Ohren Sand
und auf das Grab drei Schippen Sand ­
mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland.

Mahnung der Gefallenen

Aus allen Gräbern der gefallenen Brüder
klopft das Gebein herauf: wir liegen wach
und horchen, was ihr treibt. Doch immer müder
wird euer Kampf. Selbst euer Wort klingt schwach.
Habt ihr uns dazu weinend eingegraben,
mit roten Schleifen unsre Gruft geschmückt,
daß unsre Mörder gute Tage haben
und daß die Faust, die uns erschlug, euch drückt?
Wir starben in dem Kampf, den zu gewinnen
wir euch mit unsrem Tode auferlegt.
Ihr schwurt uns Sieg. ­ Wollt ihr euch noch besinnen,
bis euch das Alter in die Grube fegt?
Kränkt euch nicht mehr das Elend und der Hunger?
Beugt ihr euch wieder willig unters Joch?
Schläft euer Geist? Und warum reißt kein junger,
kein starker Arm ihn zur Empörung hoch?
Genossen, schämt euch. Ihr seid klug geworden.
Wir kämpften. Ihr bedenkt, erwägt, bemeßt.
Die Feinde knechten euch; sie strafen, morden ­
ihr unterhandelt, ihr erhebt Protest!
Ihr sitzt am selben Tisch mit ihresgleichen
und feilscht im Rat. ­ Sie handeln, ihr stimmt ab.
Sie bringen Jahr für Jahr uns frische Leichen; ­
ihr bringt uns jährlich frisches Grün ans Grab. ­
Die Waffen mögt ihr, nicht Protest erheben!
Dem Volke dient ­ euch selbst ­ doch nicht dem Staat !
Nicht kluger Vorsicht ­ weiht dem Kampf das Leben!
Statt weicher Eide leistet harte Tat!…
Wir Toten liegen wach, doch ihr treibt Possen.
Erfüllt, was unser Tod von euch begehrt!
Erkämpfet uns die ewige Ruh, Genossen!
Rächt uns! Befreit die Welt! Heraus das Schwert!

In der Zelle

Scheu glitt ein Tag vorbei ­ wie gestern heut.
Ein leerer rascher Tropfen sank ins Jahr.
Und wenn sich aus der Nacht geballtem Nichts
der letzte Schatten in den Morgen streut ­
du freust dich kaum am kalten Kuß des Lichts.
Und morgen wird es sein, wie’s heut und gestern war.

Gefängnis: Leben ohne Gegenwart,
ganz ausgefüllt von der Vergangenheit
und von der Hoffnung ihrer Wiederkehr.
Du fragst nicht, ob du weich ruhst oder hart,
ob deine Schüssel voll ist oder leer.
Betrogen um den Augenblick verrinnt die Zeit.

Du wirst nicht älter und du bleibst nicht jung.
Gewöhnung weckt dich, bettet dich zur Ruh.
Dein Fragewort heißt niemals: Wie? ­ Nur: Wann?
Doch Wann ist Zukunft, Wann ist Forderung.
Weh dir, wenn dich Gewöhnung töten kann.
Verlern das Warten nicht. Bleib immer Du! Bleib Du!

Meta und der Finkenschafter

Herr Kunze stand als Hausverwalter
in Lohn bei einem Häuserwirt,
und seine Tochter in dem Alter,
wo so ein Mädchen liebend wird.

Er war ein Witmann, sie war Waise,
seitdem Frau Kunze jüngst entschlief;
sie teilten sich ihr Amt, wenn leise
des Nachts des Hauses Klingel rief.

Doch nach und nach ergab Herr Kunze
sein Witwerherz dem Alkohol
und überließ die Pförtnerfunze
der Tochter samt des Hauses Wohl.

Er schlief so fest als wie ein Igel;
doch Meta, denn so hieß das Kind,
schob treu besorgt des Tores Riegel
für Herrschaft sowie Hausgesind.

Erst fünfzehn und noch unerfahren
erwuchs sie neben dem Portal.
Herr Kunze meint: in ihren Jahren
hat’s Zeit noch, sie erfährt’s schon mal.

Und sie erfuhr’s nur wenig später,
und, wie so oft, auf schlimme Art.
Die Mütter sterben, und die Väter
versaufen Pflicht und Gegenwart.

Es wohnte dort in Aftermiete
im Bodenstübchen ein Student ­
ein Finkenschafter, Halbsemite,
rothaarig, mit Kritiktalent.

Der hatte einmal schon beim Scheuern
das gute Mädchen angegrinst.
Doch deucht ihn, nächstens zu erneuern
die Freundlichkeiten, sei Gewinnst.

Nun hatt er freilich zu dem Schlosse
den Schlüssel, so wie jedermann als
zahlungsfähiger Hausgenosse
ein solches Möbel fordern kann.

Doch einst in seines Nachttischs Lade
vergaß er ihn mit Vorbedacht,
trank mit den Finken Limonade
und redete die halbe Nacht.

Er sprach von den sozialen Pflichten,
verwarf den Zweikampf voller Hohn,
und ihm begeistert beizupflichten,
versäumte kein Kommiliton.

Dann trennt man sich mit Händedrücken,
auch unser Studio ging nach Haus,
und unterwegs sann er die Tücken,
die ihn beseelten, einzeln aus.

Dann riß er an des Hauses Glocke
um fünf Minuten nach halb drei,
und Meta kam im Unterrocke,
zu sehn, wer es so spät noch sei.

„Verzeihn Sie“, so begann der Bube,
„die Störung, teuerste Mamsell.
Denn ich vergaß in meiner Stube
versehentlich den Hausschlüssell.“

Und während er die Zähne fletschte
aus falscher Liebenswürdigkeit,
nahm er den rechten Arm und quetschte
ihn um den Leib der jungen Maid.

Zwar wehrte sie sich erst des Bösen,
doch zog er ein Fünfmarkstück vor,
begann ihr vorn das Hemd zu lösen
und küßte sie aufs linke Ohr.

Nun könnte man mit Recht erwarten,
er trüg sie in sein Kabinett.
Spielt dort sein Spiel mit offnen Karten,
ein ehrlich Liebesspiel im Bett.

Dann hätte sie mit fünfzehn Jahren
geliebt, und das ist nicht zu jung,
und tät ihm ewiglich bewahren
die dankbarste Erinnerung.

Jedoch der rote Finkenschafter
zog sie im Hausflur nackend aus
und riß aus einem Brennholz-Klafter,
der dalag, einen Scheit heraus.

Den ließ er lichterloh entflammen,
und selbst entblößt ­ so gut wie ganz ­
vollführt er mit dem Kind zusammen
um diese Fackel einen Tanz.

Dann rief er aus: „Ist dieser Fetisch
nicht edler als die Sinnenlust?
Mein Kind, o bleibe stets ästhetisch!“ ­
Und griff ihr an die weiße Brust.

Und ohne ihr Gefühl zu kennen,
löscht er die Glut, die er entfacht,
ließ nur den Scheit zu Ende brennen
und wünscht ihr trocken gute Nacht.

Doch Meta blieb zurück und weinte
und staunte dessen, was sie sah;
sie wußte nichts, wiewohl sie meinte,
daß nicht genug mit ihr geschah.

Dann nahm sie ihre paar Gewänder
und ging zu Bett, doch schlief sie nicht.
Sie dachte nur an ihren Schänder
und an sein rotes Bocksgesicht.

Besudelt blieb ihr ganzes Leben,
vergiftet war ihr reiner Sinn,
sie wollt sich nur ästhetisch geben
und wurde Frauenrechtlerin.

Nur einmal hatte sie für Liebe
fünf kümmerliche Mark erwischt,
doch waren dabei ihre Triebe
mit dem Scheit Holze aufgezischt.

O kommt mir nicht mit euerm keuschen
ästhetisch lüsternen Gegrein.
Ein liebes Mädchen zu enttäuschen,
vermag in Wahrheit nur ein Schwein.

Rendezvous

Ich bin verdammt zu warten
in einem Bürgergarten
auf das geliebte Weib.
Nun sitz ich hier als Beute
gewissenloser Leute
mit breitem Unterleib.
Sie sind so froh beim Biere,
bald zwei, bald drei, bald viere ­
und reden vom Geschäft.
Die Gattin spricht vom Hause,
die Töchter trinken Brause,
und Flock, das Hündchen, kläfft.
Die Kellnerinnen schwirren.
Die Tischgeschirre klirren.
Der Himmel scheint so blau.
Wie süß ist’s doch, zu warten
in einem Bürgergarten
auf die geliebte Frau.

Weihnachten

Nun ist das Fest der Weihenacht,
das Fest, das alle glücklich macht,
wo sich mit reichen Festgeschenken
Mann, Weib und Greis und Kind bedenken,
wo aller Hader wird vergessen
beim Christbaum und beim Karpfenessen; ­­
und groß und klein und arm und reich ­­
an diesem Tag ist alles gleich.
So steht’s in vielerlei Varianten
in deutschen Blättern. Alten Tanten
und Wickelkindern rollt die Zähre
ins Taschentuch ob dieser Märe.
Papa liest’s der Familie vor,
und alle lauschen und sind Ohr…
Ich sah, wie so ein Zeitungsblatt
ein armer Kerl gelesen hat.
Er hob es auf aus einer Pfütze,
daß es ihm hinterm Zaune nütze.

Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Ein Magen, zwei Arme,
ein kleines Hirn und ein großer Mund,
und eine Seele ­daß Gott erbarme! ­
Was muß der Mensch? Muß schlafen und denken,
muß essen und feilschen und Karren lenken,
muß wuchern mit seinem halben Pfund.
Muß beten und lieben und fluchen und hassen,
muß hoffen und muß sein Glück verpassen ­
und leiden wie ein geschundner Hund.

Trostspruch

Das Schicksal kann den Körper prügeln,
kann mit Kandare, Sporen, Bügeln
den Fuß, die Hand, die Stimme zügeln. ­
Der Geist steigt auf mit freien Flügeln
und lacht ins Tal von Wolkenhügeln.

Testament

Nein, ich will nicht eher zu Grabe,
eh ich nicht auch die letzten Sprossen
irdischen Glückes erstiegen habe,
eh ich das Leben nicht ganz genossen;

eh ich nicht alle Frauen umschlungen,
die mich durch meine Träume begleiten,
eh ich nicht alle Lieder gesungen,
die sich in meinem Herzen bereiten;

eh ich nicht alle Werke gestaltet,
die sich dem schaffenden Geist entbinden,
eh ich der Führerpflicht nicht gewaltet,
daß die Menschen ihr Wegziel finden;

eh ich nicht fröhliche Augen sehe,
die von Erhebung und Stolz verjüngt sind,
eh ich nicht über Äcker gehe,
die statt mit Tränen mit Freude gedüngt sind.

Nimmt der Erlöser dann und Vernichter
von meinen Tagen die lastenden Ketten,
sollt ihr den seligsten Menschen und Dichter
tief in befreites Erdreich betten.

Wiegenlied

Still, mein armes Söhnchen, sei still.
Weine mich nicht um mein bißchen Verstand.
Weißt ja noch nichts vom Vaterland,
daß es dein Leben einst haben will.
Sollst fürs Vaterland stechen und schießen,
sollst dein Blut in den Acker gießen,
wenn es der Kaiser befiehlt und will. ­
Still, mein Söhnchen, sei still!

Trink, mein Söhnchen, von meiner Brust.
Trink, dann wirst du ein starker Held,
ziehst mit den andern hinaus ins Feld.
Vater hat auch hinaus gemußt.
Vater ward wider Willen und Hoffen
von einer Kugel ins Herz getroffen.
Aus ist nun seine und meine Lust. ­
Trink von der Mutter Brust!

Freu dich, goldiges Söhnchen, und lach.
Bist du ein Mann einst, kräftig und groß,
wirst du das Lachen von selber los.
Fröhlich bleibt nur, wer krank ist und schwach.
Vater war lustig. Ich hab ihn verloren,
hab dann dich unter Schmerzen geboren ­
hörst drum ewig mein bitteres Ach!
Freu dich, Söhnchen, und lach!

Schlaf, mein süßes Söhnchen, o schlaf.
Weißt ja noch nichts von Unheil und Not,
weißt nichts von Vaters Heldentod,
als ihn die bleierne Kugel traf.
Früh genug wird der Krieg und der Schrecken
dich zum ewigen Schlummer erwecken …
Friede, behüt meines Kindes Schlaf ! ­
Schlaf, mein Söhnchen, o schlaf …

 Nach oben

Soldatenlied

Wir lernten in der Schlacht zu stehn
bei Sturm und Höllenglut.
Wir lernten in den Tod zu gehn,
nicht achtend unser Blut.
Und wenn sich einst die Waffe kehrt
auf die, die uns den Kampf gelehrt,
sie werden uns nicht feige sehn.
Ihr Unterricht war gut.

Wir töten, wie man uns befahl,
mit Blei und Dynamit,
für Vaterland und Kapital,
für Kaiser und Profit.
Doch wenn erfüllt die Tage sind,
dann stehn wir auf für Weib und Kind
und kämpfen, bis durch Dunst und Qual
die lichte Sonne sieht.

Soldaten! Ruft’s von Front zu Front:
Es ruhe das Gewehr!
Wer für die Reichen bluten konnt,
kann für die Seinen mehr.
Ihr drüben! Auf zur gleichen Pflicht!
Vergeßt den Freund im Feinde nicht!
In Flammen ruft der Horizont
nach Hause jedes Heer.

Lebt wohl, ihr Brüder! Unsre Hand,
daß ferner Friede sei!
Nie wieder reiß das Völkerband
in rohem Krieg entzwei.
Sieg allen in der Heimatschlacht!
Dann sinken Grenzen, stürzt die Macht,
und alle Welt ist Vaterland,
und alle Welt ist frei!

Vision

Vor dem Rot des Tags, der Abschied nimmt,
wälzt sich wollig wolkig grauer Rauch,
welcher eines nahen Schlotes Bauch
schwer entklimmt.

Und der Rauch formt vor dem roten Schein
weiche Arabesken und Figuren.
Wunderlich zerfließen die Konturen
querluftein.

Streit und Kampf

Nicht nötig ist’s, nach Schritt und Takt
gehorsam vorwärts zu marschieren.
Doch wenn der Hahn der Flinte knackt,
dann miteinander zugepackt
und nicht den Nebenmann verlieren!

Schlagt zwanzig Freiheitstheorien
euch gegenseitig um die Ohren
und singt nach hundert Melodien ­
doch gilt es in den Kampf zu ziehen,
dann sei der gleiche Eid geschworen!

Aktionsprogramm, Parteistatut,
Richtlinien und Verhaltungslehren ­
schöpft nur aus allen Quellen Mut!
Ein jedes Kampfsystem ist gut,
das nicht versagt vor den Gewehren!

Darum solang kein Feind euch droht,
verschont einander nicht mit Glossen.
Doch weckt euch einst der Ruf der Not,
dann weh das einige Banner rot
voran den einigen Genossen!

Rebellenlied

Sie hatten uns mit Zwang und Lügen
in ihre Stöcke eingeschraubt.
Sie hatten gnädig uns erlaubt,
in ihrem Joch ihr Land zu pflügen.
Sie saßen da in Prunk und Pracht
mit vollgestopftem Magen
und zwangen uns, für ihre Macht
einander totzuschlagen.
Doch wir, noch stolz auf unsere Fesseln,
verbeugten uns vor ihren Sesseln.

Sie kochten ihre Larvenschminke
aus unserm Blut und unserm Schweiß.
Sie traten uns vor Bauch und Steiß,
und wir gehorchten ihrem Winke.
Sie fühlten sich unendlich wohl,
sie schreckte kein Gewitter.
Jedoch ihr Postament war hohl,
ihr Kronenschmuck war Flitter.
Wir haben nur die Faust erhoben,
da ist der ganze Spuk zerstoben.

Es rasseln zwanzig Fürstenkronen.
Die erste Arbeit ist geschafft.
Doch, Kameraden, nicht erschlafft,
soll unser Werk die Mühe lohnen!
Noch füllen wir den Pfeffersack,
auf ihr Geheiß, den Reichen;
noch drückt das Unternehmerpack
den Sporn uns in die Weichen.
Noch darf die Welt uns Sklaven heißen ­
noch gibt es Ketten zu zerreißen.

Vier Jahre hat die Welt der Knechte
ihr Blut verspritzt fürs Kapital.
Jetzt steht sie auf, zum erstenmal
für eigne Freiheit, eigne Rechte.
Germane, Römer, Jud und Ruß
in einem Bund zusammen ­
der Völker brüderlicher Kuß
löscht alle Kriegesflammen.
Jetzt gilt’s die Freiheit aufzustellen. ­
Die rote Fahne hoch, Rebellen!

Trutzlied

Nennt uns nur höhnisch Weltbeglücker,
weil wir das Joch der Unterdrücker
nicht länger dulden und die Schmach.
Lacht nur der neuen Ideale,
leert auf die alten die Pokale ­
Wir geben nicht nach!

Legt nur die Stirn in ernste Falten,
schreckt auf im Bette ungehalten
und scheuert euch die Augen wach.
Flucht auf die unerwünschte Störung,
reißt ’s Fenster auf und schreit: Empörung!
Wir geben nicht nach!

Setzt euch nur auf die Geldkassette,
daß Gott die arme Seele rette
aus Not, Gefahr und Ungemach ­
und ruft nach euern guten Geistern,
nach Polizei und Kerkermeistern ­
Wir geben nicht nach!

Daß den Verrat der Teufel hole,
langt nur die Repetierpistole
samt den Patronen aus dem Fach,
und schmückt den Hut mit der Kokarde
der geldsacktreuen weißen Garde ­
Wir geben nicht nach!

Laßt Volkes Blut in Strömen fließen,
laßt uns erhängen und erschießen,
setzt uns den roten Hahn aufs Dach.
Laßt Mörser und Haubitzen wüten,
um euer Diebesgut zu hüten ­
Wir geben nicht nach!

Laßt euer Höllenwerkzeug toben!
Die Sehnsucht selbst hat sich erhoben
des Volks, das seine Ketten brach.
Freiheit und Recht stehn auf der Schanze.
Sieg oder Tod ­ jetzt geht’s ums Ganze! ­
Wir geben nicht nach!

Zuversicht

Mag auch der Kerkerketten Bleigewicht
den Körper manchmal an den Boden zwingen ­
Genossen, Mut! Die stärkste Kette bricht
und mit ihr jede Not;-nur eine nicht:
die Mattigkeit geknickter Seelenschwingen.
Spürt ihr die Sonne durch die Nebel dringen?
Ihr Strahlenbohrer schweißt das Kerkertor.
Gebt acht ­ die Fesseln lockern sich, Genossen!
Dem Auge kommt das Blickfeld weiter vor;
entwöhntes Klingen rauscht vertraut ans Ohr.
Die Zukunft, von Vergangenem umflossen,
strafft unsre Seelenfittiche: Empor!

Vermächtnis

Ihr Kameraden der Not,
hört mein Gebot!
Hört mein Vermächtnis!
Es kommt die Zeit, da das Feuer loht,
da die Welt sich befreit,
daß das Leben in lockenden Sprachen spricht.
Vergeßt eure Not, eure Leiden nicht!
Ich lehr euch: Gedächtnis!

Ihr Kameraden der Haft,
schont eure Kraft!
Bändigt die Sorgen!
Was Wut und Scham eurer Leidenschaft,
euerm Willensdrang nahm,
was Leids sich im Herzen euch häufen mag:
es wird alles gebraucht für den kommenden Tag.
Spart’s auf für das Morgen!

Ihr Kameraden der Nacht,
steht auf der Wacht!
Lernt von den Bütteln!
Was Haß euch lehrt und mißbrauchte Macht,
sei gepflegt und vermehrt.
Ein Altar aus verwartetem Ekel und Groll,
von der Liebe entbehrten Küssen voll ­
wer will daran rütteln?!

Ihr Kameraden im Tod,
hört mein Gebot!
Mein letztes Vermächtnis!
Bald wird vielleicht uns das Henkerbrot
in den Kerker gereicht.
Dann segnet das Blut, das dem Leibe entrinnt!
Es fließt zur Jugend, die Rache sinnt ­
und lehrt sie: Gedächtnis!

Vom Wirken des Künstlers

Ein Gespräch bei Königsberger Klops

Nichts bietet eine solidere Grundlage für streitbare Unterhaltungen als ein gut bereitetes Mittagessen. Die heterogensten Gedankengänge wachsen aus einem gemeinsamen Boden heraus, und die gleichzeitige Betätigung gern bewegter Muskeln balanciert wohlwollend die seelischen Emotionen der Streitenden.
Die Diskussion, die die folgenden Betrachtungen erweckte, fand bei Königsberger Klops statt. Schon bei der Suppe hatte mein Bruder, der ein wissenschaftlich ernst fundierter Arzt ist, ironisch bemerkt, daß ich in meiner übeln Gewohnheit zu dichten doch eigentlich eine recht verfehlte Lebenstendenz verfolge. Meine Schwägerin ist eine zu vortreffliche Wirtin, als daß nicht mein Vergnügen an den knusprigen Semmelbröckchen, die in der Suppe schwammen, den Verdruß über die lieblose Äußerung meines Bruders bei weitem überwogen hätte. So erklärte ich einfach, während ich mir die Reste der sämigen Brühe vom Schnurrbart wischte (Suppe essen ist für einen bärtigen Mann stets eine Tragödie), daß ich außer der geringen finanziellen Ausbeute nichts wüßte, was mich diese Gewohnheit als eine üble erkennen ließe, zumal ich Grund zu der Annahme hätte ­ hierbei schlug ich mir mit der Serviette vor die Brust ­, daß meine Produktion für die deutsche Literatur von beträchtlichem Wert sei.
Die Klöpse wurden aufgetragen. Diesem Umstande allein hat es mein Bruder zu danken, daß ich die höhnische Physiognomie, die er bei meinen stolzen Worten aufsetzte, nicht mit dem Vortrag eines meiner neuesten Gedichte beantwortete. Aber seine Miene nahm einen heitern und friedlichen Ausdruck an, als er sich drei dicke Klöpse auf den Teller geladen hatte und sie nun in der köstlichsten Kapernsauce baden ließ. Auch mir floß mit der Kapernsauce eine versöhnliche Stimmung über das Gemüt, und es gelang mir, ein freundliches Lächeln zu bewahren, als mein Bruder halb feierlich, wegen der Mission, die er mit seiner Rede erfüllte, halb schmunzelnd, wegen des bräunlichen Dufts, den die Königsberger Klöpse ausströmten, folgendes sagte: „Lieber Erich! Deine Gedichte in allen Ehren. Davon verstehe ich nichts. Aber ich bin überzeugt, daß Goethe gegen dich ein eitler Stümper war.“ (Ich schüttelte bescheiden den Kopf.) „Aber sag mir doch bloß einmal: was hat eure ganze Dichterei überhaupt für einen Wert? Wem nützt ihr damit? Wo helft ihr mit euern schönsten Versen der Menschheit einen kleinsten Schritt weiter? Ihr Künstler seid doch wahrhaftig die zwecklosesten Leute, die auf der weiten Welt herumlaufen!“
Ich hätte es jetzt, wenn ich ein gewandter Feuilletonist wäre, so furchtbar leicht, meinen Bruder abzuschlachten. Ich brauchte nur aus unserer Unterhaltung einen literarischen Dialog zu machen. In so einem Dialog redet der, der ihn nachher der Welt übermittelt, immer äußerst geistreiche Gedanken. Er fertigt den andern so schlagend ab, daß der sogleich seine Weltanschauung revidiert oder doch wenigstens sich in tiefen, beinah reumütigen Gedanken eine Zigarre anzündet. In der Wirklichkeit gibt es aber gar keine literarischen Dialoge, wo Tugend und Recht siegt. Im Gegenteil: da behält immer am Ende der recht, der unrecht hat, und der, der recht hat, kommt sich wie ein zerknirschtes Rindvieh vor. Das liegt daran, daß eine unrichtige Ansicht immer System hat, eine richtige nie. Was richtig ist, weiß man, und was man nicht weiß, begründet man. In diesem Falle hatte mein Bruder die Gründe, und daher bildet er sich noch heute ein, daß er recht hat.
Ich war aber überhaupt im Nachteil gegen ihn. Denn erstens ist er mit meiner Schwägerin verheiratet; daher konnte er sein Interesse zwischen dem Wirken des Künstlers und dem Königsberger Klops, der für ihn nichts Neues war, viel leichter teilen als ich, dessen Hingabe aufs heftigste von der Kapernsauce in Anspruch genommen war. Außerdem schmeichelte mir bis zur Kritiklosigkeit die raffinierte Formulierung seiner Betrachtung; denn mit dem „ihr“ konnte er doch immer nur mich und Goethe meinen; und schließlich hatte er sich doch schon so lange mit dem Ärger gegen die Künstler zugunsten seiner Wissenschaftlichkeit getragen, daß er längst ein System konstruiert hatte, das nun auf mich herab explodierte.
Nein ­ nein! Kein literarischer Dialog soll mir zum Siege verhelfen. Ich will wahrhaft und getreulich berichten, wie ich und Goethe und alle Dichtung und alle Kunst bei Königsberger Klops zerschmettert und widerlegt wurde.
Meine Gabel zerquetschte gerade den fünften Fleischkloß, als ich mich zu der entrüsteten Erwiderung aufraffte: „Na hör mal, der Zweck einer Sache kann doch in ihr selbst liegen. So ist es bei der Poesie und bei jeder Kunst. Damit soll der Menschheit nicht genützt werden? ­ Ach, du lieber Himmel! Wo wäre die Menschheit, wenn es keine Künstler gäbe!“
Mein Bruder zerspießte eine Kartoffel, daß der Teller klirrte. „So?“ rief er. „Meinst du, ohne Shakespeare und Goethe und dich und Beethoven und Böcklin und wie ihr alle heißt“ ­ (ich war schon wieder halb ausgesöhnt) ­ „meinst du, ohne euch hätten wir kein Telefon und keine Zigarren und führen nicht im Automobil und im lenkbaren Luftballon?“
„Wann wärst du denn im Lenkballon gefahren?“ ­ Ich war schon zufrieden, in meiner ausweichenden Antwort wenigstens eine brauchbare Übersetzung für „le dirigeable“ gefunden zu haben.
Aber mein Bruder hatte offenbar keinen Sinn für die Sprachbereicherung. Er schimpfte: „Ei was! ­ Das ist doch kein Einwand! Die Wissenschaft schreitet mit riesigen Sätzen vorwärts. Täglich werden neue Verfahren entdeckt, um Krankheiten aus der Welt zu schaffen. Das nenne ich Wirken! Das heißt der Menschheit dienen und nützen! ­ Aber was wißt ihr davon? ­ Kennst du den Namen Wassermann?“ ­ rief er plötzlich, wobei er triumphierend eine Kaper von der Gabel sog.
Endlich! dachte ich. Läßt er erst mal einen gelten, dann komme ich ihm überhaupt bei. Leider habe ich aber von Jakob Wassermann nicht alles gelesen und mußte befürchten, in meiner eigenen Arena geworfen zu werden. Schüchtern stammelte ich daher etwas von Renate Fuchs und einem nie geküßten Mund. Die Juden von Zorndorf wollte ich erst bei Gelegenheit lesen.
Mein Bruder legte die Gabel aus der Hand. Es war das erstemal während des Essens, so daß ich Schreckliches kommen sah. Dann meinte er gedehnt: „Wie? ­ Was? ­ Nie geküßte Juden? ­ Renate von Zorndorf? ­ Bist du rappelig? ­ Ach, du redest wohl von einem Dichter? ­“
Ich nickte.
„Mensch! Ich spreche vom Geheimrat Professor Dr. Wassermann, einem unserer berühmtesten Therapeutiker, der zuerst die Serumtherapie bei Lues angewandt hat. Von dem hast du nie etwas gehört?“
„Nein“, sagte ich melancholisch, während ich mir einen Löffel Kapernsauce über den siebenten Klops träufelte.
„Da sieht man’s“, donnerte er. „Während die physiologische Wissenschaft die ungeheuersten Umwälzungen in allen sozialen, hygienischen und humanitären Verhältnissen herbeiführt, lauft ihr“ (er meinte offenbar wieder Goethe, Shakespeare, Beethoven, Böcklin und mich) „lauft ihr an einen dreckigen Bach und laßt euch vom Mond zu euern kolossalen Schöpfungen inspirieren. Und habt ihr nachher glücklich sechs Leute gefunden, die sich das Zeug mit himmelnden Augen anhören, meint ihr, ihr wäret wer weiß was für Nummern! Redet von Kultur! Beweihräuchert euch gegenseitig, ich weiß nicht wie! ­ Sieh dir doch die Zeitungen an: über jeden obskuren Maler oder Dichter oder Musiker oder Schauspieler, der sechzig Jahre alt wird oder stirbt oder seit fünfundzwanzig Jahren die Welt mit seinem Genie beglückt, spaltenlange Lobarien; aber von Professor Wassermann hat kein Mensch eine Ahnung!“
Wir waren inzwischen beide dabei angelangt, daß wir die Kapernsauce mit einem Stückchen Brot austunkten, und ich beschloß nun, zum Angriff überzugehen.
„Na!“ sagte ich also. Damit fange ich immer an, wenn ich etwas Gewichtiges zu sagen gedenke: „Hast du denn, wenn du zum Beispiel ins Theater gehst und den ,Othello‘ siehst, oder du hörst in der Philharmonie die Neunte Sinfonie von Beethoven, oder du stehst im Kaiser-Friedrich-Museum vor ,Jakobs Kampf mit dem Engel‘ von Rembrandt, oder du liest Goethes ,Füllest wieder Busch und Tal‘ ­ hast du dann nie eine innere Erhebung, fühlst du dich dann nie größer und freier und beglückt ­­“
„Hör bloß auf“, unterbrach mich mein Bruder. „Du siehst, ich esse Königsberger Klops“ (er fing aber schon mit dem Kompott an), „da kannst du nicht von mir verlangen, daß ich elegische Deklamationen anhören soll. Aber, damit du weißt, wie ich über die Kunst denke, will ich dir doch ein Zugeständnis machen. Ich sehe mir zwar im Theater nicht den ,Othello‘ an, sondern höchstens mal im Herrnfeld-Theater die ,Klabriaspartie‘. Aber das gebe ich dir ohne weiteres zu, daß mich die Kunst immerhin mal amüsieren kann.“
„Aber die ernsthafte Kunst!“ rief ich.
„Natürlich. Warum nicht auch die ernsthafte Kunst? ­ Aber mehr als Amüsement kann ich der auch nicht abgewinnen. Und das ist ja auch gewiß etwas Gutes.“
Ich schob den letzten Löffel Preißelbeeren in den Mund und sagte: „Aber amüsieren kannst du dich doch auch ohne Kunst.“
„Allerdings“, gab mein Bruder zu. „Es macht mir auch gar keinen Unterschied, ob ich die ,Klabriaspartie‘ vorgespielt kriege oder die Neunte Sinfonie oder ob ich vom Fenster aus zusehe, wie sich draußen zwei Hunde beißen. Das Vergnügen dabei ist nur graduell unterschieden. Es werden allenfalls verschiedene Muskeln davon tangiert.“
„Du bist ein Barbar!“ stöhnte ich.
„Möglich“, meinte er gemütsruhig. „Das ändert aber gar nichts an der Tatsache, daß die bei Lues angewandte Serumtherapeutik ein kulturell unendlich wertvolleres Ereignis ist als alle Werke deiner berühmtesten Künstler zusammengenommen.“
Ich fühlte: dagegen war nicht aufzukommen. Ich kippte daher nur noch schnell den Kaffee herunter, ließ mir von meinem Bruder eine Zigarre auf den Weg mitgeben, reichte meiner Schwägerin trübselig die Hand und schlug mich davon.
Unterwegs hielt ich Selbstgespräche, in denen ich energisch meinen Bruder apostrophierte. Wir wirken aber doch! erklärte ich ihm bei mir. Na ja ­ auf dich wirken wir nicht. Aber liegt das an uns? (Es war mir schon ganz geläufig geworden, mich mit Goethe und den übrigen als „wir“ zu fühlen.) Ich behaupte, die Welt wäre öde, stumpfsinnig, roh, perfid ­ nein, noch öder, stumpfsinniger, roher und perfider als sie jetzt schon ist, gäbe es keine Kunst und keine Künstler. Hunderttausenden, Hundertmillionen geben wir Trost und Erhebung und Heilung und Hoffnung. Ist das gar nichts? Hä? ­ Und wenn du dabei nichts für dich herausholst, dann geht uns das so wenig an wie die Serumtherapie bei Lues. Schließlich ist ja auch noch nicht jeder Mensch luetisch.
Ich war froh, meinen Bruder dergestalt doch noch widerlegt zu haben. Dann wandte sich meine Betrachtung in innigem Behagen der Erinnerung an die Königsberger Klöpse zu, und meine Seele schwamm in Kapernsauce. Ausgesöhnt mit der Welt und zufrieden mit mir ging ich ins Kaffeehaus und dichtete meine Ballade „Meta und der Finkenschafter“.

Seenot

Der Kapitän, der Steuermann,
vom Deck die Offiziere
schaun sorgenvoll den Himmel an.
Ein rascher Blick fällt dann und wann
auch auf die Passagiere.

Das räkelt faul den Bauch an Bord,
schlemmt in der Luxusmesse,
das lacht und prahlt und flucht: Potz Mord!
und karessiert, Bankier wie Lord,
die blonde Stewardesse.

Das führt Devisen mit und bar,
gab Gold in erznen Urnen
den sich’ren Kojen in Verwahr-
und droht dem Dampfer Sturmgefahr,
dann mag die Mannschaft turnen.

Die Mannschaft turnt. In Rauch und Dreck
schleppt sie und keucht und schuftet
und riecht bei zähem Schiffsgebäck,
wie Bratenbrüh und Rahmgeschleck
aus der Kajüte duftet.

Die See geht hoch, scharf geht der Wind,
hart poltert die Maschine.
Die Hände regen sich geschwind
um Kessel, Reling und Gewind,
um Großtopp und Turbine.

Da tritt ein Bootsmann vor und spricht
gepreßt durch bleiche Lippen:
„Kap’tän, die Schotten schließen nicht.
Wenn achtern die Verschalung bricht,
ist’s aus; dann hilft kein Schippen.“

„Ach, Unsinn.“ Doch der Seemann knackt
nervös mit seinen Fingern.
Er hört des Motors falschen Takt,
er fühlt, wenn Flut die Planken packt,
den ganzen Kasten schlingern.

Schon lange klagt der Maschinist;
der Kessel will nicht heizen.
Das Schiff verzögert seine Frist,
und im Proviantraum nagt und frißt
die Feuchtigkeit am Weizen.

Der Steuermann zeigt ohne Wort
nach dem Gewölk im Norden.
Das letzte Himmelsblau glitt fort.
Wo eben Lichter spielten, dort
ist graue Nacht geworden.

Die grünen Wogen trommeln dumpf
und drohend ihre Weisen.
Im Zwischendeck, im Dampferrumpf
drängt sich’s, mit Augen bang und stumpf.
Hier ist die Not auf Reisen.

Mittschiffs jedoch im Aufbausaal,
da sprühn des Reichtums Wunder,
Musik jauchzt toll zum Bacchanal,
Juwelen blitzen ohne Zahl
bei Austern und Burgunder.

Vor einer Flasche Haute-Sauterne,
im Mund die Zigarette,
am Ecktisch sitzen ein paar Herrn,
die Brust geschmückt mit Band und Stern,
die Uhr an goldner Kette.

Sie kümmert nicht der Damenflor,
das Flirten und Scharmieren.
Sie beugen ihre Glatzen vor
und flüstern in des Nachbars Ohr
von Aktien und Papieren.

„Hier noch ein Kognak extra fein!“
Die Stewards huschen schweigend
mit Mokka, Schnaps, Biskuit und Wein.
Da tritt der Kapitän herein,
sich links und rechts verneigend.

Man dankt dem Seemann frohgelaunt,
sieht ihn zum Ecktisch schreiten.
Ein dicker Herr steht auf. Man raunt.
Die andern sehn den Gast erstaunt
den Kapitän begleiten.

Der, wie dem Hauptmann der Soldat,
hebt an, Bericht zu geben:
„Gefahr droht, Herr Kommerzienrat.
Ich fürchte, schweres Wetter naht.
Es geht um Schiff und Leben!“ ­

„Doch nicht die erste Klasse, wie?
Soll’n wir vielleicht ersaufen?“ ­
„Das Schiff ist nach der Havarie
beim großen Sturm ­ ich warnte Sie ­
zu früh vom Dock gelaufen.

Zweitausend Menschen ­ und die Fracht;
wir haben schwer geladen.
Wenn man den Dampfer leichter macht,
wird er, so hoff ich, flottgebracht.
Sonst steh ich nicht für Schaden.“ ­

„Was sagt die Mannschaft?“ ­ „Oh, die faßt
forsch zu an allen Bänken;
schimpft auch auf den Kajütengast
und will, ich soll als erste Last
Ihr Gold ins Meer versenken.“ ­

„Mein Gold?! Den Plan, verdammte Brut,
den mach ich euch zuschanden!
Bevor ein Ünzlein in die Flut
versinkt, fliegt alles Mannschaftsgut
erst über Bord! Verstanden?!“ ­

„Sie spaßen!“ ruft der Kapitän.
„Wir würden grenzenlosen,
furchtbaren Haß und Aufruhr sä’n.
Ich will nach andrer Rettung spähn ­
Hand weg von den Matrosen!

Es sind an Bord zehn Kisten Horn
und tausend Cheviotballen,
dann noch, im großen Kühlraum vorn,
dreihundert Tonnen Weizenkorn.
Das mag als Ballast fallen!“

Der Dicke schnaubt: „Sie können frei
als Kapitän ermessen.
Jedoch das ist an Land vorbei,
und ich bin Chef der Reederei ­
wolln Sie das nicht vergessen!

Mein ist das Horn und mein das Tuch,
mein das Getreidelager.
Geht von der Ladung was in Bruch,
versichert steht die Fracht zu Buch
bei meinem Freund und Schwager!“

Da kommt der Erste Offizier:
„Das Löschen muß beginnen.
Am Steven dringt das Wasser schier
in Strömen ein. Bald sehen wir
es in die Kojen rinnen.“ ­

„Gut. Über Bord-Befehl ist da! ­
die Koffer und die Fetzen
der Mannschaft ­ samt Harmonika
und Priem. Es wird den Schaden ja
die Reederei ersetzen. ­

Das ist ein Tropfen auf ein Faß.
Doch muß man es versuchen.“
Der Offizier begibt sich blaß
zu seinen Leuten: dies und das ­
da hilft kein Drohn und Fluchen.

Das Schiffsvolk disputiert und läuft.
„Was? Unsre paar Klamotten!
Und hinten liegt das Gold gehäuft
in Urnen!“ ­ Und das Wasser säuft
sich glucksend durch die Schotten.

„Die Bande lebt in Saus und Braus!
Wir streiken!“ rufen Stimmen.
„Pumpt euch allein das Wasser raus!
Von uns aus könnt mit Ratz und Maus
ihr an das Festland schwimmen!“

Man legt das Werkzeug aus der Hand.
Ein Teil nur bleibt beim Schöpfen.
Ganz langsam steigt der Wasserrand.
Die Streiker sind aus Rand und Band
und schrein mit heißen Köpfen.

Der Kaufherr rennt zum Zwischendeck ­:
„Hört ihr den Lärm da oben?
Man meutert, und das Schiff ist leck!
Faßt ihr mit an zum guten Zweck ­
dann ist die Not behoben.“ ­

„Nothilfe! Vorwärts! Du und du!
Wir strafen die Gesellen!“
Und viele Hände greifen zu.
Des Schiffsvolks Hab und Gut im Nu
verschwindet in den Wellen.

Die Mannschaft starrt ihm nach. Parbleu!
Wut blitzt durch ihre Lider.
Der Kiel steigt etwas in die Höh.
Von Norden her pfeift eine Bö.
Das Wetter senkt sich wieder.

Und die Matrosen gehn zurück
ans Werk. Die Herzen bluten.
Die Koffer tragen, jedes Stück,
ein wenig Liebe, etwas Glück
hinunter in die Fluten.

Indes der Zweck ist nicht erreicht:
schon feuchten sich die Luken ­
Matrosenhabe wiegt zu leicht.
Der Kapitän sieht’s, prüft, erbleicht.
Gefahrgespenster spuken.

Er klagt’s dem Reeder. ­ „Ja“, spricht der,
„da heißt’s Entschlüsse fassen!
Zweitausend Menschen lasten schwer.
Die Boote klar, und raus ins Meer!
Die Streiker sind entlassen!

Was bleibt, wird praktisch eingeteilt
und schafft in Überstunden.
Sonst: Zwischendeckler angekeilt ­
dann ist der Schaden ausgeheilt.
Die Lösung ist gefunden.“ ­

„Wie, Herr Kommerzienrat? Nein, Nein!
Hier geht’s um Menschenseelen!“ ­
„Ich will’s. Fracht ist und Dampfer mein!“
Da knickt der Mut des Seemanns ein ­:
„Sie haben zu befehlen.“

Rasch geht’s an Bord von Mund zu Mund;
ein Murren folgt, ein Tosen.
Man trotzt. Der Wucherer! Der Hund!
Nothelfer aber mühn sich ­ und:
behüt euch Gott, Matrosen!

Der Nord bläst lauter über See.
Im Saale blasen Flöten.
Da tanzt vergnügt die Hautevolee
­ Graf X und die Baronin C ­;
das weiß von keinen Nöten.

Und wieder hebt sich leicht der Kiel.
Das Wasser scheint zu weichen.
Doch immer noch trägt viel zu viel
das Schiff. Der Pumpen schweres Spiel
vermag’s nicht auszugleichen.

Ach, auf die Hoffnung folgt der Sturz.
Das Leck klafft stündlich breiter,
und bei der Arbeit grollt’s und murrt’s:
„Die Müh zu schwer, die Kost zu kurz ­
wir können nicht mehr weiter!“

Des Meeres Fläche brodelt schon
wie Brei der Höllenküche,
und in des Sturms Trompetenton
mischt sich der Ausgesetzten Hohn,
ihr Schrei’n und ihre Flüche.

Der Kapitän, bedeckt mit Schweiß,
steht wieder vor dem Reeder:
„Herr, geben Sie die Ladung preis!
Und wär’s ein Bruchteil nur, so weiß
es Ihnen Dank ein jeder.

Heb ich nicht schnell das Loch am Bug
bis übern Meeresspiegel,
dann ist’s zu spät. ­ Herr, sei’n Sie klug!“ ­
„Nein! Meiner Opfer sind’s genug,
und darauf Brief und Siegel!

Daß unsereins stets opfern soll!
Man mißbraucht unsre Güte; ­
ist doch von Menschen übervoll
mit Sack und Pack ­ trotz hohem Zoll ­
die Zwischendeckskajüte.

Dort zugepackt mit Energie!
Ist’s hart ­ auch ich hab Sorgen.
Das drückt aufs Schiff. Da räumen Sie.
Mein Gold und meine Ware ­ nie!
Berichten Sie mir morgen.“

Kommandos schallen übers Schiff.
Was gibt’s? Wer kann es fassen?
Hier tönt ein Ruf und dort ein Pfiff.
Vom Zuring löst des Bootsmanns Griff
die Kutter und Pinassen.

Derweilen rennt’s im Zwischendeck
und drängt’s in den Kabinen.
Der Frauen Haar ist wirr vor Schreck.
Manch Auge starrt auf einen Fleck
aus wutverzerrten Mienen.

„Uns schifft man aus wie tote Last.
Wir haben sie gerettet.
Das schwelgt in Wollust, hurt und praßt.
Zum Kampf, wer seine Mörder haßt!
So wurde nicht gewettet!“

Die Männer baun sich stieren Blicks
vor Weib und Kind als Schanze. ­
Im Festsaal wippt mit Kuß und Knicks
Baronin C und Graf von X.
Musik spielt auf zum Tanze. ­

Der Kapitän, in jeder Hand
den Browning, ernst entschlossen,
tritt vor: „Wer leistet Widerstand!
Ich bin hier Herr. Mein Wort zum Pfand:
Wer meutert, wird erschossen!“

Die Schiffsbesatzung ist zum Streit
im Halbkreis aufgezogen,
Pistolen, Äxte sind bereit.
Ein Weib schluchzt auf. Ein Säugling schreit.
Der Sturm zieht durch die Wogen.

Da stürzen Männer vor: „Du Schuft! ­
Auf, mit vereintem Mute!“
Getümmel. Schüsse, Rauch verpufft.
Ein Schwergetroffner ringt nach Luft.
Fünf wälzen sich im Blute.

Noch einmal Lärm und Fußgestampf
und Knallen der Pistolen.
Vorbei ­ besiegt. Aus ist der Kampf.
Fern, schauerlich dringt durch den Dampf
vom Meer her heis’res Johlen.

Man führt sie, Weib und Kind voran,
zum Bootsdeck in die Kutter.
Dann senkt sie rasch der Davitskran
hinab zum grünen Ozean.
Die Kleinen wimmern: „Mutter!“

Die Armut drückt nicht mehr. ­ Nun geigt
und hüpft die Lust der Prasser.
Und sieh, der Schiffsrumpf hebt sich, steigt,
und wo am Bug das Leck sich zeigt,
fließt endlich ab das Wasser.

Der Reeder lacht: „Das Glück war hold.
Der Alpdruck ist verschwunden.
Die Drohnen drückten ­ nicht mein Gold.
Drum lange Arbeit, wenig Sold.
Dann wird das Schiff gesunden.“

Nun hämmert’s, hastet’s, werkelt, rennt
und pflastert Loch und Schaden,
bis Schläfe, Herz und Auge brennt.
Sturmwolken ziehn am Firmament
vorbei in gelben Schwaden.

Das Meer bäumt brüllend sich empor,
schlägt hoch aufs Deck die Wellen.
Doch durch der Wetter schrillen Chor
klingt grell der Rachefluch hervor
der Armen und Rebellen.

Und die Besatzung plagt sich, schwitzt ­
kein Schlaf und Hungerzahlung.
Der Sturm posaunt. Der Himmel blitzt.
Die Schotten geben nach, es spritzt
die Flut durch die Verschalung.

Mann und Maschine seufzt und keucht.
Schon stöhnt’s: „Wir können nimmer.“
Beim Heizraum, finster, dumpf und feucht,
im Kerker wird der Schlaf verscheucht
dem Kuli wie dem Trimmer …

So treibt das Schiff auf trunkner See,
umtobt von Sturm und Hasse.
Graf X führt die Baronin C
­ die fürchten nichts ­ im Neglige
zur Koje I. Klasse ­­­.

Der Dampfer „Deutschland“ ist in Not.
Wird ihn die Flut vernichten?
Sprengt ihn sein morscher Kessel tot?
Stürmt ihn die Wut des Volks im Boot? ­
Die Zeitung wird’s berichten.

Rendezvous

Ich bin verdammt zu warten
in einem Bürgergarten
auf das geliebte Weib.
Nun sitz ich hier als Beute
gewissenloser Leute
mit breitem Unterleib.
Sie sind so froh beim Biere,
bald zwei, bald drei, bald viere ­
und reden vom Geschäft.
Die Gattin spricht vom Hause,
die Töchter trinken Brause,
und Flock, das Hündchen, kläfft.
Die Kellnerinnen schwirren.
Die Tischgeschirre klirren.
Der Himmel scheint so blau.
Wie süß ist’s doch, zu warten
in einem Bürgergarten
auf die geliebte Frau.

Weihnachten

Nun ist das Fest der Weihenacht,
das Fest, das alle glücklich macht,
wo sich mit reichen Festgeschenken
Mann, Weib und Greis und Kind bedenken,
wo aller Hader wird vergessen
beim Christbaum und beim Karpfenessen; ­­
und groß und klein und arm und reich ­­
an diesem Tag ist alles gleich.
So steht’s in vielerlei Varianten
in deutschen Blättern. Alten Tanten
und Wickelkindern rollt die Zähre
ins Taschentuch ob dieser Märe.
Papa liest’s der Familie vor,
und alle lauschen und sind Ohr…
Ich sah, wie so ein Zeitungsblatt
ein armer Kerl gelesen hat.
Er hob es auf aus einer Pfütze,
daß es ihm hinterm Zaune nütze.

Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Ein Magen, zwei Arme,
ein kleines Hirn und ein großer Mund,
und eine Seele ­daß Gott erbarme! ­
Was muß der Mensch? Muß schlafen und denken,
muß essen und feilschen und Karren lenken,
muß wuchern mit seinem halben Pfund.
Muß beten und lieben und fluchen und hassen,
muß hoffen und muß sein Glück verpassen ­
und leiden wie ein geschundner Hund.

Trostspruch

Das Schicksal kann den Körper prügeln,
kann mit Kandare, Sporen, Bügeln
den Fuß, die Hand, die Stimme zügeln. ­
Der Geist steigt auf mit freien Flügeln
und lacht ins Tal von Wolkenhügeln.

Testament

Nein, ich will nicht eher zu Grabe,
eh ich nicht auch die letzten Sprossen
irdischen Glückes erstiegen habe,
eh ich das Leben nicht ganz genossen;

eh ich nicht alle Frauen umschlungen,
die mich durch meine Träume begleiten,
eh ich nicht alle Lieder gesungen,
die sich in meinem Herzen bereiten;

eh ich nicht alle Werke gestaltet,
die sich dem schaffenden Geist entbinden,
eh ich der Führerpflicht nicht gewaltet,
daß die Menschen ihr Wegziel finden;

eh ich nicht fröhliche Augen sehe,
die von Erhebung und Stolz verjüngt sind,
eh ich nicht über Äcker gehe,
die statt mit Tränen mit Freude gedüngt sind.

Nimmt der Erlöser dann und Vernichter
von meinen Tagen die lastenden Ketten,
sollt ihr den seligsten Menschen und Dichter
tief in befreites Erdreich betten.

Wiegenlied

Still, mein armes Söhnchen, sei still.
Weine mich nicht um mein bißchen Verstand.
Weißt ja noch nichts vom Vaterland,
daß es dein Leben einst haben will.
Sollst fürs Vaterland stechen und schießen,
sollst dein Blut in den Acker gießen,
wenn es der Kaiser befiehlt und will. ­
Still, mein Söhnchen, sei still!

Trink, mein Söhnchen, von meiner Brust.
Trink, dann wirst du ein starker Held,
ziehst mit den andern hinaus ins Feld.
Vater hat auch hinaus gemußt.
Vater ward wider Willen und Hoffen
von einer Kugel ins Herz getroffen.
Aus ist nun seine und meine Lust. ­
Trink von der Mutter Brust!

Freu dich, goldiges Söhnchen, und lach.
Bist du ein Mann einst, kräftig und groß,
wirst du das Lachen von selber los.
Fröhlich bleibt nur, wer krank ist und schwach.
Vater war lustig. Ich hab ihn verloren,
hab dann dich unter Schmerzen geboren ­
hörst drum ewig mein bitteres Ach!
Freu dich, Söhnchen, und lach!

Schlaf, mein süßes Söhnchen, o schlaf.
Weißt ja noch nichts von Unheil und Not,
weißt nichts von Vaters Heldentod,
als ihn die bleierne Kugel traf.
Früh genug wird der Krieg und der Schrecken
dich zum ewigen Schlummer erwecken …
Friede, behüt meines Kindes Schlaf ! ­
Schlaf, mein Söhnchen, o schlaf …

Soldatenlied

Wir lernten in der Schlacht zu stehn
bei Sturm und Höllenglut.
Wir lernten in den Tod zu gehn,
nicht achtend unser Blut.
Und wenn sich einst die Waffe kehrt
auf die, die uns den Kampf gelehrt,
sie werden uns nicht feige sehn.
Ihr Unterricht war gut.

Wir töten, wie man uns befahl,
mit Blei und Dynamit,
für Vaterland und Kapital,
für Kaiser und Profit.
Doch wenn erfüllt die Tage sind,
dann stehn wir auf für Weib und Kind
und kämpfen, bis durch Dunst und Qual
die lichte Sonne sieht.

Soldaten! Ruft’s von Front zu Front:
Es ruhe das Gewehr!
Wer für die Reichen bluten konnt,
kann für die Seinen mehr.
Ihr drüben! Auf zur gleichen Pflicht!
Vergeßt den Freund im Feinde nicht!
In Flammen ruft der Horizont
nach Hause jedes Heer.

Lebt wohl, ihr Brüder! Unsre Hand,
daß ferner Friede sei!
Nie wieder reiß das Völkerband
in rohem Krieg entzwei.
Sieg allen in der Heimatschlacht!
Dann sinken Grenzen, stürzt die Macht,
und alle Welt ist Vaterland,
und alle Welt ist frei!

Vision

Vor dem Rot des Tags, der Abschied nimmt,
wälzt sich wollig wolkig grauer Rauch,
welcher eines nahen Schlotes Bauch
schwer entklimmt.

Und der Rauch formt vor dem roten Schein
weiche Arabesken und Figuren.
Wunderlich zerfließen die Konturen
querluftein.

Streit und Kampf

Nicht nötig ist’s, nach Schritt und Takt
gehorsam vorwärts zu marschieren.
Doch wenn der Hahn der Flinte knackt,
dann miteinander zugepackt
und nicht den Nebenmann verlieren!

Schlagt zwanzig Freiheitstheorien
euch gegenseitig um die Ohren
und singt nach hundert Melodien ­
doch gilt es in den Kampf zu ziehen,
dann sei der gleiche Eid geschworen!

Aktionsprogramm, Parteistatut,
Richtlinien und Verhaltungslehren ­
schöpft nur aus allen Quellen Mut!
Ein jedes Kampfsystem ist gut,
das nicht versagt vor den Gewehren!

Darum solang kein Feind euch droht,
verschont einander nicht mit Glossen.
Doch weckt euch einst der Ruf der Not,
dann weh das einige Banner rot
voran den einigen Genossen!

Rebellenlied

Sie hatten uns mit Zwang und Lügen
in ihre Stöcke eingeschraubt.
Sie hatten gnädig uns erlaubt,
in ihrem Joch ihr Land zu pflügen.
Sie saßen da in Prunk und Pracht
mit vollgestopftem Magen
und zwangen uns, für ihre Macht
einander totzuschlagen.
Doch wir, noch stolz auf unsere Fesseln,
verbeugten uns vor ihren Sesseln.

Sie kochten ihre Larvenschminke
aus unserm Blut und unserm Schweiß.
Sie traten uns vor Bauch und Steiß,
und wir gehorchten ihrem Winke.
Sie fühlten sich unendlich wohl,
sie schreckte kein Gewitter.
Jedoch ihr Postament war hohl,
ihr Kronenschmuck war Flitter.
Wir haben nur die Faust erhoben,
da ist der ganze Spuk zerstoben.

Es rasseln zwanzig Fürstenkronen.
Die erste Arbeit ist geschafft.
Doch, Kameraden, nicht erschlafft,
soll unser Werk die Mühe lohnen!
Noch füllen wir den Pfeffersack,
auf ihr Geheiß, den Reichen;
noch drückt das Unternehmerpack
den Sporn uns in die Weichen.
Noch darf die Welt uns Sklaven heißen ­
noch gibt es Ketten zu zerreißen.

Vier Jahre hat die Welt der Knechte
ihr Blut verspritzt fürs Kapital.
Jetzt steht sie auf, zum erstenmal
für eigne Freiheit, eigne Rechte.
Germane, Römer, Jud und Ruß
in einem Bund zusammen ­
der Völker brüderlicher Kuß
löscht alle Kriegesflammen.
Jetzt gilt’s die Freiheit aufzustellen. ­
Die rote Fahne hoch, Rebellen!

Trutzlied

Nennt uns nur höhnisch Weltbeglücker,
weil wir das Joch der Unterdrücker
nicht länger dulden und die Schmach.
Lacht nur der neuen Ideale,
leert auf die alten die Pokale ­
Wir geben nicht nach!

Legt nur die Stirn in ernste Falten,
schreckt auf im Bette ungehalten
und scheuert euch die Augen wach.
Flucht auf die unerwünschte Störung,
reißt ’s Fenster auf und schreit: Empörung!
Wir geben nicht nach!

Setzt euch nur auf die Geldkassette,
daß Gott die arme Seele rette
aus Not, Gefahr und Ungemach ­
und ruft nach euern guten Geistern,
nach Polizei und Kerkermeistern ­
Wir geben nicht nach!

Daß den Verrat der Teufel hole,
langt nur die Repetierpistole
samt den Patronen aus dem Fach,
und schmückt den Hut mit der Kokarde
der geldsacktreuen weißen Garde ­
Wir geben nicht nach!

Laßt Volkes Blut in Strömen fließen,
laßt uns erhängen und erschießen,
setzt uns den roten Hahn aufs Dach.
Laßt Mörser und Haubitzen wüten,
um euer Diebesgut zu hüten ­
Wir geben nicht nach!

Laßt euer Höllenwerkzeug toben!
Die Sehnsucht selbst hat sich erhoben
des Volks, das seine Ketten brach.
Freiheit und Recht stehn auf der Schanze.
Sieg oder Tod ­ jetzt geht’s ums Ganze! ­
Wir geben nicht nach!

Zuversicht

Mag auch der Kerkerketten Bleigewicht
den Körper manchmal an den Boden zwingen ­
Genossen, Mut! Die stärkste Kette bricht
und mit ihr jede Not;-nur eine nicht:
die Mattigkeit geknickter Seelenschwingen.
Spürt ihr die Sonne durch die Nebel dringen?
Ihr Strahlenbohrer schweißt das Kerkertor.
Gebt acht ­ die Fesseln lockern sich, Genossen!
Dem Auge kommt das Blickfeld weiter vor;
entwöhntes Klingen rauscht vertraut ans Ohr.
Die Zukunft, von Vergangenem umflossen,
strafft unsre Seelenfittiche: Empor!

Vermächtnis

Ihr Kameraden der Not,
hört mein Gebot!
Hört mein Vermächtnis!
Es kommt die Zeit, da das Feuer loht,
da die Welt sich befreit,
daß das Leben in lockenden Sprachen spricht.
Vergeßt eure Not, eure Leiden nicht!
Ich lehr euch: Gedächtnis!

Ihr Kameraden der Haft,
schont eure Kraft!
Bändigt die Sorgen!
Was Wut und Scham eurer Leidenschaft,
euerm Willensdrang nahm,
was Leids sich im Herzen euch häufen mag:
es wird alles gebraucht für den kommenden Tag.
Spart’s auf für das Morgen!

Ihr Kameraden der Nacht,
steht auf der Wacht!
Lernt von den Bütteln!
Was Haß euch lehrt und mißbrauchte Macht,
sei gepflegt und vermehrt.
Ein Altar aus verwartetem Ekel und Groll,
von der Liebe entbehrten Küssen voll ­
wer will daran rütteln?!

Ihr Kameraden im Tod,
hört mein Gebot!
Mein letztes Vermächtnis!
Bald wird vielleicht uns das Henkerbrot
in den Kerker gereicht.
Dann segnet das Blut, das dem Leibe entrinnt!
Es fließt zur Jugend, die Rache sinnt ­
und lehrt sie: Gedächtnis!

Vom Wirken des Künstlers

Ein Gespräch bei Königsberger Klops

Nichts bietet eine solidere Grundlage für streitbare Unterhaltungen als ein gut bereitetes Mittagessen. Die heterogensten Gedankengänge wachsen aus einem gemeinsamen Boden heraus, und die gleichzeitige Betätigung gern bewegter Muskeln balanciert wohlwollend die seelischen Emotionen der Streitenden.
Die Diskussion, die die folgenden Betrachtungen erweckte, fand bei Königsberger Klops statt. Schon bei der Suppe hatte mein Bruder, der ein wissenschaftlich ernst fundierter Arzt ist, ironisch bemerkt, daß ich in meiner übeln Gewohnheit zu dichten doch eigentlich eine recht verfehlte Lebenstendenz verfolge. Meine Schwägerin ist eine zu vortreffliche Wirtin, als daß nicht mein Vergnügen an den knusprigen Semmelbröckchen, die in der Suppe schwammen, den Verdruß über die lieblose Äußerung meines Bruders bei weitem überwogen hätte. So erklärte ich einfach, während ich mir die Reste der sämigen Brühe vom Schnurrbart wischte (Suppe essen ist für einen bärtigen Mann stets eine Tragödie), daß ich außer der geringen finanziellen Ausbeute nichts wüßte, was mich diese Gewohnheit als eine üble erkennen ließe, zumal ich Grund zu der Annahme hätte ­ hierbei schlug ich mir mit der Serviette vor die Brust ­, daß meine Produktion für die deutsche Literatur von beträchtlichem Wert sei.
Die Klöpse wurden aufgetragen. Diesem Umstande allein hat es mein Bruder zu danken, daß ich die höhnische Physiognomie, die er bei meinen stolzen Worten aufsetzte, nicht mit dem Vortrag eines meiner neuesten Gedichte beantwortete. Aber seine Miene nahm einen heitern und friedlichen Ausdruck an, als er sich drei dicke Klöpse auf den Teller geladen hatte und sie nun in der köstlichsten Kapernsauce baden ließ. Auch mir floß mit der Kapernsauce eine versöhnliche Stimmung über das Gemüt, und es gelang mir, ein freundliches Lächeln zu bewahren, als mein Bruder halb feierlich, wegen der Mission, die er mit seiner Rede erfüllte, halb schmunzelnd, wegen des bräunlichen Dufts, den die Königsberger Klöpse ausströmten, folgendes sagte: „Lieber Erich! Deine Gedichte in allen Ehren. Davon verstehe ich nichts. Aber ich bin überzeugt, daß Goethe gegen dich ein eitler Stümper war.“ (Ich schüttelte bescheiden den Kopf.) „Aber sag mir doch bloß einmal: was hat eure ganze Dichterei überhaupt für einen Wert? Wem nützt ihr damit? Wo helft ihr mit euern schönsten Versen der Menschheit einen kleinsten Schritt weiter? Ihr Künstler seid doch wahrhaftig die zwecklosesten Leute, die auf der weiten Welt herumlaufen!“
Ich hätte es jetzt, wenn ich ein gewandter Feuilletonist wäre, so furchtbar leicht, meinen Bruder abzuschlachten. Ich brauchte nur aus unserer Unterhaltung einen literarischen Dialog zu machen. In so einem Dialog redet der, der ihn nachher der Welt übermittelt, immer äußerst geistreiche Gedanken. Er fertigt den andern so schlagend ab, daß der sogleich seine Weltanschauung revidiert oder doch wenigstens sich in tiefen, beinah reumütigen Gedanken eine Zigarre anzündet. In der Wirklichkeit gibt es aber gar keine literarischen Dialoge, wo Tugend und Recht siegt. Im Gegenteil: da behält immer am Ende der recht, der unrecht hat, und der, der recht hat, kommt sich wie ein zerknirschtes Rindvieh vor. Das liegt daran, daß eine unrichtige Ansicht immer System hat, eine richtige nie. Was richtig ist, weiß man, und was man nicht weiß, begründet man. In diesem Falle hatte mein Bruder die Gründe, und daher bildet er sich noch heute ein, daß er recht hat.
Ich war aber überhaupt im Nachteil gegen ihn. Denn erstens ist er mit meiner Schwägerin verheiratet; daher konnte er sein Interesse zwischen dem Wirken des Künstlers und dem Königsberger Klops, der für ihn nichts Neues war, viel leichter teilen als ich, dessen Hingabe aufs heftigste von der Kapernsauce in Anspruch genommen war. Außerdem schmeichelte mir bis zur Kritiklosigkeit die raffinierte Formulierung seiner Betrachtung; denn mit dem „ihr“ konnte er doch immer nur mich und Goethe meinen; und schließlich hatte er sich doch schon so lange mit dem Ärger gegen die Künstler zugunsten seiner Wissenschaftlichkeit getragen, daß er längst ein System konstruiert hatte, das nun auf mich herab explodierte.
Nein ­ nein! Kein literarischer Dialog soll mir zum Siege verhelfen. Ich will wahrhaft und getreulich berichten, wie ich und Goethe und alle Dichtung und alle Kunst bei Königsberger Klops zerschmettert und widerlegt wurde.
Meine Gabel zerquetschte gerade den fünften Fleischkloß, als ich mich zu der entrüsteten Erwiderung aufraffte: „Na hör mal, der Zweck einer Sache kann doch in ihr selbst liegen. So ist es bei der Poesie und bei jeder Kunst. Damit soll der Menschheit nicht genützt werden? ­ Ach, du lieber Himmel! Wo wäre die Menschheit, wenn es keine Künstler gäbe!“
Mein Bruder zerspießte eine Kartoffel, daß der Teller klirrte. „So?“ rief er. „Meinst du, ohne Shakespeare und Goethe und dich und Beethoven und Böcklin und wie ihr alle heißt“ ­ (ich war schon wieder halb ausgesöhnt) ­ „meinst du, ohne euch hätten wir kein Telefon und keine Zigarren und führen nicht im Automobil und im lenkbaren Luftballon?“
„Wann wärst du denn im Lenkballon gefahren?“ ­ Ich war schon zufrieden, in meiner ausweichenden Antwort wenigstens eine brauchbare Übersetzung für „le dirigeable“ gefunden zu haben.
Aber mein Bruder hatte offenbar keinen Sinn für die Sprachbereicherung. Er schimpfte: „Ei was! ­ Das ist doch kein Einwand! Die Wissenschaft schreitet mit riesigen Sätzen vorwärts. Täglich werden neue Verfahren entdeckt, um Krankheiten aus der Welt zu schaffen. Das nenne ich Wirken! Das heißt der Menschheit dienen und nützen! ­ Aber was wißt ihr davon? ­ Kennst du den Namen Wassermann?“ ­ rief er plötzlich, wobei er triumphierend eine Kaper von der Gabel sog.
Endlich! dachte ich. Läßt er erst mal einen gelten, dann komme ich ihm überhaupt bei. Leider habe ich aber von Jakob Wassermann nicht alles gelesen und mußte befürchten, in meiner eigenen Arena geworfen zu werden. Schüchtern stammelte ich daher etwas von Renate Fuchs und einem nie geküßten Mund. Die Juden von Zorndorf wollte ich erst bei Gelegenheit lesen.
Mein Bruder legte die Gabel aus der Hand. Es war das erstemal während des Essens, so daß ich Schreckliches kommen sah. Dann meinte er gedehnt: „Wie? ­ Was? ­ Nie geküßte Juden? ­ Renate von Zorndorf? ­ Bist du rappelig? ­ Ach, du redest wohl von einem Dichter? ­“
Ich nickte.
„Mensch! Ich spreche vom Geheimrat Professor Dr. Wassermann, einem unserer berühmtesten Therapeutiker, der zuerst die Serumtherapie bei Lues angewandt hat. Von dem hast du nie etwas gehört?“
„Nein“, sagte ich melancholisch, während ich mir einen Löffel Kapernsauce über den siebenten Klops träufelte.
„Da sieht man’s“, donnerte er. „Während die physiologische Wissenschaft die ungeheuersten Umwälzungen in allen sozialen, hygienischen und humanitären Verhältnissen herbeiführt, lauft ihr“ (er meinte offenbar wieder Goethe, Shakespeare, Beethoven, Böcklin und mich) „lauft ihr an einen dreckigen Bach und laßt euch vom Mond zu euern kolossalen Schöpfungen inspirieren. Und habt ihr nachher glücklich sechs Leute gefunden, die sich das Zeug mit himmelnden Augen anhören, meint ihr, ihr wäret wer weiß was für Nummern! Redet von Kultur! Beweihräuchert euch gegenseitig, ich weiß nicht wie! ­ Sieh dir doch die Zeitungen an: über jeden obskuren Maler oder Dichter oder Musiker oder Schauspieler, der sechzig Jahre alt wird oder stirbt oder seit fünfundzwanzig Jahren die Welt mit seinem Genie beglückt, spaltenlange Lobarien; aber von Professor Wassermann hat kein Mensch eine Ahnung!“
Wir waren inzwischen beide dabei angelangt, daß wir die Kapernsauce mit einem Stückchen Brot austunkten, und ich beschloß nun, zum Angriff überzugehen.
„Na!“ sagte ich also. Damit fange ich immer an, wenn ich etwas Gewichtiges zu sagen gedenke: „Hast du denn, wenn du zum Beispiel ins Theater gehst und den ,Othello‘ siehst, oder du hörst in der Philharmonie die Neunte Sinfonie von Beethoven, oder du stehst im Kaiser-Friedrich-Museum vor ,Jakobs Kampf mit dem Engel‘ von Rembrandt, oder du liest Goethes ,Füllest wieder Busch und Tal‘ ­ hast du dann nie eine innere Erhebung, fühlst du dich dann nie größer und freier und beglückt ­­“
„Hör bloß auf“, unterbrach mich mein Bruder. „Du siehst, ich esse Königsberger Klops“ (er fing aber schon mit dem Kompott an), „da kannst du nicht von mir verlangen, daß ich elegische Deklamationen anhören soll. Aber, damit du weißt, wie ich über die Kunst denke, will ich dir doch ein Zugeständnis machen. Ich sehe mir zwar im Theater nicht den ,Othello‘ an, sondern höchstens mal im Herrnfeld-Theater die ,Klabriaspartie‘. Aber das gebe ich dir ohne weiteres zu, daß mich die Kunst immerhin mal amüsieren kann.“
„Aber die ernsthafte Kunst!“ rief ich.
„Natürlich. Warum nicht auch die ernsthafte Kunst? ­ Aber mehr als Amüsement kann ich der auch nicht abgewinnen. Und das ist ja auch gewiß etwas Gutes.“
Ich schob den letzten Löffel Preißelbeeren in den Mund und sagte: „Aber amüsieren kannst du dich doch auch ohne Kunst.“
„Allerdings“, gab mein Bruder zu. „Es macht mir auch gar keinen Unterschied, ob ich die ,Klabriaspartie‘ vorgespielt kriege oder die Neunte Sinfonie oder ob ich vom Fenster aus zusehe, wie sich draußen zwei Hunde beißen. Das Vergnügen dabei ist nur graduell unterschieden. Es werden allenfalls verschiedene Muskeln davon tangiert.“
„Du bist ein Barbar!“ stöhnte ich.
„Möglich“, meinte er gemütsruhig. „Das ändert aber gar nichts an der Tatsache, daß die bei Lues angewandte Serumtherapeutik ein kulturell unendlich wertvolleres Ereignis ist als alle Werke deiner berühmtesten Künstler zusammengenommen.“
Ich fühlte: dagegen war nicht aufzukommen. Ich kippte daher nur noch schnell den Kaffee herunter, ließ mir von meinem Bruder eine Zigarre auf den Weg mitgeben, reichte meiner Schwägerin trübselig die Hand und schlug mich davon.
Unterwegs hielt ich Selbstgespräche, in denen ich energisch meinen Bruder apostrophierte. Wir wirken aber doch! erklärte ich ihm bei mir. Na ja ­ auf dich wirken wir nicht. Aber liegt das an uns? (Es war mir schon ganz geläufig geworden, mich mit Goethe und den übrigen als „wir“ zu fühlen.) Ich behaupte, die Welt wäre öde, stumpfsinnig, roh, perfid ­ nein, noch öder, stumpfsinniger, roher und perfider als sie jetzt schon ist, gäbe es keine Kunst und keine Künstler. Hunderttausenden, Hundertmillionen geben wir Trost und Erhebung und Heilung und Hoffnung. Ist das gar nichts? Hä? ­ Und wenn du dabei nichts für dich herausholst, dann geht uns das so wenig an wie die Serumtherapie bei Lues. Schließlich ist ja auch noch nicht jeder Mensch luetisch.
Ich war froh, meinen Bruder dergestalt doch noch widerlegt zu haben. Dann wandte sich meine Betrachtung in innigem Behagen der Erinnerung an die Königsberger Klöpse zu, und meine Seele schwamm in Kapernsauce. Ausgesöhnt mit der Welt und zufrieden mit mir ging ich ins Kaffeehaus und dichtete meine Ballade „Meta und der Finkenschafter“.

Seenot

Der Kapitän, der Steuermann,
vom Deck die Offiziere
schaun sorgenvoll den Himmel an.
Ein rascher Blick fällt dann und wann
auch auf die Passagiere.

Das räkelt faul den Bauch an Bord,
schlemmt in der Luxusmesse,
das lacht und prahlt und flucht: Potz Mord!
und karessiert, Bankier wie Lord,
die blonde Stewardesse.

Das führt Devisen mit und bar,
gab Gold in erznen Urnen
den sich’ren Kojen in Verwahr-
und droht dem Dampfer Sturmgefahr,
dann mag die Mannschaft turnen.

Die Mannschaft turnt. In Rauch und Dreck
schleppt sie und keucht und schuftet
und riecht bei zähem Schiffsgebäck,
wie Bratenbrüh und Rahmgeschleck
aus der Kajüte duftet.

Die See geht hoch, scharf geht der Wind,
hart poltert die Maschine.
Die Hände regen sich geschwind
um Kessel, Reling und Gewind,
um Großtopp und Turbine.

Da tritt ein Bootsmann vor und spricht
gepreßt durch bleiche Lippen:
„Kap’tän, die Schotten schließen nicht.
Wenn achtern die Verschalung bricht,
ist’s aus; dann hilft kein Schippen.“

„Ach, Unsinn.“ Doch der Seemann knackt
nervös mit seinen Fingern.
Er hört des Motors falschen Takt,
er fühlt, wenn Flut die Planken packt,
den ganzen Kasten schlingern.

Schon lange klagt der Maschinist;
der Kessel will nicht heizen.
Das Schiff verzögert seine Frist,
und im Proviantraum nagt und frißt
die Feuchtigkeit am Weizen.

Der Steuermann zeigt ohne Wort
nach dem Gewölk im Norden.
Das letzte Himmelsblau glitt fort.
Wo eben Lichter spielten, dort
ist graue Nacht geworden.

Die grünen Wogen trommeln dumpf
und drohend ihre Weisen.
Im Zwischendeck, im Dampferrumpf
drängt sich’s, mit Augen bang und stumpf.
Hier ist die Not auf Reisen.

Mittschiffs jedoch im Aufbausaal,
da sprühn des Reichtums Wunder,
Musik jauchzt toll zum Bacchanal,
Juwelen blitzen ohne Zahl
bei Austern und Burgunder.

Vor einer Flasche Haute-Sauterne,
im Mund die Zigarette,
am Ecktisch sitzen ein paar Herrn,
die Brust geschmückt mit Band und Stern,
die Uhr an goldner Kette.

Sie kümmert nicht der Damenflor,
das Flirten und Scharmieren.
Sie beugen ihre Glatzen vor
und flüstern in des Nachbars Ohr
von Aktien und Papieren.

„Hier noch ein Kognak extra fein!“
Die Stewards huschen schweigend
mit Mokka, Schnaps, Biskuit und Wein.
Da tritt der Kapitän herein,
sich links und rechts verneigend.

Man dankt dem Seemann frohgelaunt,
sieht ihn zum Ecktisch schreiten.
Ein dicker Herr steht auf. Man raunt.
Die andern sehn den Gast erstaunt
den Kapitän begleiten.

Der, wie dem Hauptmann der Soldat,
hebt an, Bericht zu geben:
„Gefahr droht, Herr Kommerzienrat.
Ich fürchte, schweres Wetter naht.
Es geht um Schiff und Leben!“ ­

„Doch nicht die erste Klasse, wie?
Soll’n wir vielleicht ersaufen?“ ­
„Das Schiff ist nach der Havarie
beim großen Sturm ­ ich warnte Sie ­
zu früh vom Dock gelaufen.

Zweitausend Menschen ­ und die Fracht;
wir haben schwer geladen.
Wenn man den Dampfer leichter macht,
wird er, so hoff ich, flottgebracht.
Sonst steh ich nicht für Schaden.“ ­

„Was sagt die Mannschaft?“ ­ „Oh, die faßt
forsch zu an allen Bänken;
schimpft auch auf den Kajütengast
und will, ich soll als erste Last
Ihr Gold ins Meer versenken.“ ­

„Mein Gold?! Den Plan, verdammte Brut,
den mach ich euch zuschanden!
Bevor ein Ünzlein in die Flut
versinkt, fliegt alles Mannschaftsgut
erst über Bord! Verstanden?!“ ­

„Sie spaßen!“ ruft der Kapitän.
„Wir würden grenzenlosen,
furchtbaren Haß und Aufruhr sä’n.
Ich will nach andrer Rettung spähn ­
Hand weg von den Matrosen!

Es sind an Bord zehn Kisten Horn
und tausend Cheviotballen,
dann noch, im großen Kühlraum vorn,
dreihundert Tonnen Weizenkorn.
Das mag als Ballast fallen!“

Der Dicke schnaubt: „Sie können frei
als Kapitän ermessen.
Jedoch das ist an Land vorbei,
und ich bin Chef der Reederei ­
wolln Sie das nicht vergessen!

Mein ist das Horn und mein das Tuch,
mein das Getreidelager.
Geht von der Ladung was in Bruch,
versichert steht die Fracht zu Buch
bei meinem Freund und Schwager!“

Da kommt der Erste Offizier:
„Das Löschen muß beginnen.
Am Steven dringt das Wasser schier
in Strömen ein. Bald sehen wir
es in die Kojen rinnen.“ ­

„Gut. Über Bord-Befehl ist da! ­
die Koffer und die Fetzen
der Mannschaft ­ samt Harmonika
und Priem. Es wird den Schaden ja
die Reederei ersetzen. ­

Das ist ein Tropfen auf ein Faß.
Doch muß man es versuchen.“
Der Offizier begibt sich blaß
zu seinen Leuten: dies und das ­
da hilft kein Drohn und Fluchen.

Das Schiffsvolk disputiert und läuft.
„Was? Unsre paar Klamotten!
Und hinten liegt das Gold gehäuft
in Urnen!“ ­ Und das Wasser säuft
sich glucksend durch die Schotten.

„Die Bande lebt in Saus und Braus!
Wir streiken!“ rufen Stimmen.
„Pumpt euch allein das Wasser raus!
Von uns aus könnt mit Ratz und Maus
ihr an das Festland schwimmen!“

Man legt das Werkzeug aus der Hand.
Ein Teil nur bleibt beim Schöpfen.
Ganz langsam steigt der Wasserrand.
Die Streiker sind aus Rand und Band
und schrein mit heißen Köpfen.

Der Kaufherr rennt zum Zwischendeck ­:
„Hört ihr den Lärm da oben?
Man meutert, und das Schiff ist leck!
Faßt ihr mit an zum guten Zweck ­
dann ist die Not behoben.“ ­

„Nothilfe! Vorwärts! Du und du!
Wir strafen die Gesellen!“
Und viele Hände greifen zu.
Des Schiffsvolks Hab und Gut im Nu
verschwindet in den Wellen.

Die Mannschaft starrt ihm nach. Parbleu!
Wut blitzt durch ihre Lider.
Der Kiel steigt etwas in die Höh.
Von Norden her pfeift eine Bö.
Das Wetter senkt sich wieder.

Und die Matrosen gehn zurück
ans Werk. Die Herzen bluten.
Die Koffer tragen, jedes Stück,
ein wenig Liebe, etwas Glück
hinunter in die Fluten.

Indes der Zweck ist nicht erreicht:
schon feuchten sich die Luken ­
Matrosenhabe wiegt zu leicht.
Der Kapitän sieht’s, prüft, erbleicht.
Gefahrgespenster spuken.

Er klagt’s dem Reeder. ­ „Ja“, spricht der,
„da heißt’s Entschlüsse fassen!
Zweitausend Menschen lasten schwer.
Die Boote klar, und raus ins Meer!
Die Streiker sind entlassen!

Was bleibt, wird praktisch eingeteilt
und schafft in Überstunden.
Sonst: Zwischendeckler angekeilt ­
dann ist der Schaden ausgeheilt.
Die Lösung ist gefunden.“ ­

„Wie, Herr Kommerzienrat? Nein, Nein!
Hier geht’s um Menschenseelen!“ ­
„Ich will’s. Fracht ist und Dampfer mein!“
Da knickt der Mut des Seemanns ein ­:
„Sie haben zu befehlen.“

Rasch geht’s an Bord von Mund zu Mund;
ein Murren folgt, ein Tosen.
Man trotzt. Der Wucherer! Der Hund!
Nothelfer aber mühn sich ­ und:
behüt euch Gott, Matrosen!

Der Nord bläst lauter über See.
Im Saale blasen Flöten.
Da tanzt vergnügt die Hautevolee
­ Graf X und die Baronin C ­;
das weiß von keinen Nöten.

Und wieder hebt sich leicht der Kiel.
Das Wasser scheint zu weichen.
Doch immer noch trägt viel zu viel
das Schiff. Der Pumpen schweres Spiel
vermag’s nicht auszugleichen.

Ach, auf die Hoffnung folgt der Sturz.
Das Leck klafft stündlich breiter,
und bei der Arbeit grollt’s und murrt’s:
„Die Müh zu schwer, die Kost zu kurz ­
wir können nicht mehr weiter!“

Des Meeres Fläche brodelt schon
wie Brei der Höllenküche,
und in des Sturms Trompetenton
mischt sich der Ausgesetzten Hohn,
ihr Schrei’n und ihre Flüche.

Der Kapitän, bedeckt mit Schweiß,
steht wieder vor dem Reeder:
„Herr, geben Sie die Ladung preis!
Und wär’s ein Bruchteil nur, so weiß
es Ihnen Dank ein jeder.

Heb ich nicht schnell das Loch am Bug
bis übern Meeresspiegel,
dann ist’s zu spät. ­ Herr, sei’n Sie klug!“ ­
„Nein! Meiner Opfer sind’s genug,
und darauf Brief und Siegel!

Daß unsereins stets opfern soll!
Man mißbraucht unsre Güte; ­
ist doch von Menschen übervoll
mit Sack und Pack ­ trotz hohem Zoll ­
die Zwischendeckskajüte.

Dort zugepackt mit Energie!
Ist’s hart ­ auch ich hab Sorgen.
Das drückt aufs Schiff. Da räumen Sie.
Mein Gold und meine Ware ­ nie!
Berichten Sie mir morgen.“

Kommandos schallen übers Schiff.
Was gibt’s? Wer kann es fassen?
Hier tönt ein Ruf und dort ein Pfiff.
Vom Zuring löst des Bootsmanns Griff
die Kutter und Pinassen.

Derweilen rennt’s im Zwischendeck
und drängt’s in den Kabinen.
Der Frauen Haar ist wirr vor Schreck.
Manch Auge starrt auf einen Fleck
aus wutverzerrten Mienen.

„Uns schifft man aus wie tote Last.
Wir haben sie gerettet.
Das schwelgt in Wollust, hurt und praßt.
Zum Kampf, wer seine Mörder haßt!
So wurde nicht gewettet!“

Die Männer baun sich stieren Blicks
vor Weib und Kind als Schanze. ­
Im Festsaal wippt mit Kuß und Knicks
Baronin C und Graf von X.
Musik spielt auf zum Tanze. ­

Der Kapitän, in jeder Hand
den Browning, ernst entschlossen,
tritt vor: „Wer leistet Widerstand!
Ich bin hier Herr. Mein Wort zum Pfand:
Wer meutert, wird erschossen!“

Die Schiffsbesatzung ist zum Streit
im Halbkreis aufgezogen,
Pistolen, Äxte sind bereit.
Ein Weib schluchzt auf. Ein Säugling schreit.
Der Sturm zieht durch die Wogen.

Da stürzen Männer vor: „Du Schuft! ­
Auf, mit vereintem Mute!“
Getümmel. Schüsse, Rauch verpufft.
Ein Schwergetroffner ringt nach Luft.
Fünf wälzen sich im Blute.

Noch einmal Lärm und Fußgestampf
und Knallen der Pistolen.
Vorbei ­ besiegt. Aus ist der Kampf.
Fern, schauerlich dringt durch den Dampf
vom Meer her heis’res Johlen.

Man führt sie, Weib und Kind voran,
zum Bootsdeck in die Kutter.
Dann senkt sie rasch der Davitskran
hinab zum grünen Ozean.
Die Kleinen wimmern: „Mutter!“

Die Armut drückt nicht mehr. ­ Nun geigt
und hüpft die Lust der Prasser.
Und sieh, der Schiffsrumpf hebt sich, steigt,
und wo am Bug das Leck sich zeigt,
fließt endlich ab das Wasser.

Der Reeder lacht: „Das Glück war hold.
Der Alpdruck ist verschwunden.
Die Drohnen drückten ­ nicht mein Gold.
Drum lange Arbeit, wenig Sold.
Dann wird das Schiff gesunden.“

Nun hämmert’s, hastet’s, werkelt, rennt
und pflastert Loch und Schaden,
bis Schläfe, Herz und Auge brennt.
Sturmwolken ziehn am Firmament
vorbei in gelben Schwaden.

Das Meer bäumt brüllend sich empor,
schlägt hoch aufs Deck die Wellen.
Doch durch der Wetter schrillen Chor
klingt grell der Rachefluch hervor
der Armen und Rebellen.

Und die Besatzung plagt sich, schwitzt ­
kein Schlaf und Hungerzahlung.
Der Sturm posaunt. Der Himmel blitzt.
Die Schotten geben nach, es spritzt
die Flut durch die Verschalung.

Mann und Maschine seufzt und keucht.
Schon stöhnt’s: „Wir können nimmer.“
Beim Heizraum, finster, dumpf und feucht,
im Kerker wird der Schlaf verscheucht
dem Kuli wie dem Trimmer …

So treibt das Schiff auf trunkner See,
umtobt von Sturm und Hasse.
Graf X führt die Baronin C
­ die fürchten nichts ­ im Neglige
zur Koje I. Klasse ­­­.

Der Dampfer „Deutschland“ ist in Not.
Wird ihn die Flut vernichten?
Sprengt ihn sein morscher Kessel tot?
Stürmt ihn die Wut des Volks im Boot? ­
Die Zeitung wird’s berichten.

Rendezvous

Ich bin verdammt zu warten
in einem Bürgergarten
auf das geliebte Weib.
Nun sitz ich hier als Beute
gewissenloser Leute
mit breitem Unterleib.
Sie sind so froh beim Biere,
bald zwei, bald drei, bald viere ­
und reden vom Geschäft.
Die Gattin spricht vom Hause,
die Töchter trinken Brause,
und Flock, das Hündchen, kläfft.
Die Kellnerinnen schwirren.
Die Tischgeschirre klirren.
Der Himmel scheint so blau.
Wie süß ist’s doch, zu warten
in einem Bürgergarten
auf die geliebte Frau.

Weihnachten

Nun ist das Fest der Weihenacht,
das Fest, das alle glücklich macht,
wo sich mit reichen Festgeschenken
Mann, Weib und Greis und Kind bedenken,
wo aller Hader wird vergessen
beim Christbaum und beim Karpfenessen; ­­
und groß und klein und arm und reich ­­
an diesem Tag ist alles gleich.
So steht’s in vielerlei Varianten
in deutschen Blättern. Alten Tanten
und Wickelkindern rollt die Zähre
ins Taschentuch ob dieser Märe.
Papa liest’s der Familie vor,
und alle lauschen und sind Ohr…
Ich sah, wie so ein Zeitungsblatt
ein armer Kerl gelesen hat.
Er hob es auf aus einer Pfütze,
daß es ihm hinterm Zaune nütze.

Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Ein Magen, zwei Arme,
ein kleines Hirn und ein großer Mund,
und eine Seele ­daß Gott erbarme! ­
Was muß der Mensch? Muß schlafen und denken,
muß essen und feilschen und Karren lenken,
muß wuchern mit seinem halben Pfund.
Muß beten und lieben und fluchen und hassen,
muß hoffen und muß sein Glück verpassen ­
und leiden wie ein geschundner Hund.

Trostspruch

Das Schicksal kann den Körper prügeln,
kann mit Kandare, Sporen, Bügeln
den Fuß, die Hand, die Stimme zügeln. ­
Der Geist steigt auf mit freien Flügeln
und lacht ins Tal von Wolkenhügeln.

Testament

Nein, ich will nicht eher zu Grabe,
eh ich nicht auch die letzten Sprossen
irdischen Glückes erstiegen habe,
eh ich das Leben nicht ganz genossen;

eh ich nicht alle Frauen umschlungen,
die mich durch meine Träume begleiten,
eh ich nicht alle Lieder gesungen,
die sich in meinem Herzen bereiten;

eh ich nicht alle Werke gestaltet,
die sich dem schaffenden Geist entbinden,
eh ich der Führerpflicht nicht gewaltet,
daß die Menschen ihr Wegziel finden;

eh ich nicht fröhliche Augen sehe,
die von Erhebung und Stolz verjüngt sind,
eh ich nicht über Äcker gehe,
die statt mit Tränen mit Freude gedüngt sind.

Nimmt der Erlöser dann und Vernichter
von meinen Tagen die lastenden Ketten,
sollt ihr den seligsten Menschen und Dichter
tief in befreites Erdreich betten.

Wiegenlied

Still, mein armes Söhnchen, sei still.
Weine mich nicht um mein bißchen Verstand.
Weißt ja noch nichts vom Vaterland,
daß es dein Leben einst haben will.
Sollst fürs Vaterland stechen und schießen,
sollst dein Blut in den Acker gießen,
wenn es der Kaiser befiehlt und will. ­
Still, mein Söhnchen, sei still!

Trink, mein Söhnchen, von meiner Brust.
Trink, dann wirst du ein starker Held,
ziehst mit den andern hinaus ins Feld.
Vater hat auch hinaus gemußt.
Vater ward wider Willen und Hoffen
von einer Kugel ins Herz getroffen.
Aus ist nun seine und meine Lust. ­
Trink von der Mutter Brust!

Freu dich, goldiges Söhnchen, und lach.
Bist du ein Mann einst, kräftig und groß,
wirst du das Lachen von selber los.
Fröhlich bleibt nur, wer krank ist und schwach.
Vater war lustig. Ich hab ihn verloren,
hab dann dich unter Schmerzen geboren ­
hörst drum ewig mein bitteres Ach!
Freu dich, Söhnchen, und lach!

Schlaf, mein süßes Söhnchen, o schlaf.
Weißt ja noch nichts von Unheil und Not,
weißt nichts von Vaters Heldentod,
als ihn die bleierne Kugel traf.
Früh genug wird der Krieg und der Schrecken
dich zum ewigen Schlummer erwecken …
Friede, behüt meines Kindes Schlaf ! ­
Schlaf, mein Söhnchen, o schlaf …

Soldatenlied

Wir lernten in der Schlacht zu stehn
bei Sturm und Höllenglut.
Wir lernten in den Tod zu gehn,
nicht achtend unser Blut.
Und wenn sich einst die Waffe kehrt
auf die, die uns den Kampf gelehrt,
sie werden uns nicht feige sehn.
Ihr Unterricht war gut.

Wir töten, wie man uns befahl,
mit Blei und Dynamit,
für Vaterland und Kapital,
für Kaiser und Profit.
Doch wenn erfüllt die Tage sind,
dann stehn wir auf für Weib und Kind
und kämpfen, bis durch Dunst und Qual
die lichte Sonne sieht.

Soldaten! Ruft’s von Front zu Front:
Es ruhe das Gewehr!
Wer für die Reichen bluten konnt,
kann für die Seinen mehr.
Ihr drüben! Auf zur gleichen Pflicht!
Vergeßt den Freund im Feinde nicht!
In Flammen ruft der Horizont
nach Hause jedes Heer.

Lebt wohl, ihr Brüder! Unsre Hand,
daß ferner Friede sei!
Nie wieder reiß das Völkerband
in rohem Krieg entzwei.
Sieg allen in der Heimatschlacht!
Dann sinken Grenzen, stürzt die Macht,
und alle Welt ist Vaterland,
und alle Welt ist frei!

Vision

Vor dem Rot des Tags, der Abschied nimmt,
wälzt sich wollig wolkig grauer Rauch,
welcher eines nahen Schlotes Bauch
schwer entklimmt.

Und der Rauch formt vor dem roten Schein
weiche Arabesken und Figuren.
Wunderlich zerfließen die Konturen
querluftein.

Streit und Kampf

Nicht nötig ist’s, nach Schritt und Takt
gehorsam vorwärts zu marschieren.
Doch wenn der Hahn der Flinte knackt,
dann miteinander zugepackt
und nicht den Nebenmann verlieren!

Schlagt zwanzig Freiheitstheorien
euch gegenseitig um die Ohren
und singt nach hundert Melodien ­
doch gilt es in den Kampf zu ziehen,
dann sei der gleiche Eid geschworen!

Aktionsprogramm, Parteistatut,
Richtlinien und Verhaltungslehren ­
schöpft nur aus allen Quellen Mut!
Ein jedes Kampfsystem ist gut,
das nicht versagt vor den Gewehren!

Darum solang kein Feind euch droht,
verschont einander nicht mit Glossen.
Doch weckt euch einst der Ruf der Not,
dann weh das einige Banner rot
voran den einigen Genossen!

Rebellenlied

Sie hatten uns mit Zwang und Lügen
in ihre Stöcke eingeschraubt.
Sie hatten gnädig uns erlaubt,
in ihrem Joch ihr Land zu pflügen.
Sie saßen da in Prunk und Pracht
mit vollgestopftem Magen
und zwangen uns, für ihre Macht
einander totzuschlagen.
Doch wir, noch stolz auf unsere Fesseln,
verbeugten uns vor ihren Sesseln.

Sie kochten ihre Larvenschminke
aus unserm Blut und unserm Schweiß.
Sie traten uns vor Bauch und Steiß,
und wir gehorchten ihrem Winke.
Sie fühlten sich unendlich wohl,
sie schreckte kein Gewitter.
Jedoch ihr Postament war hohl,
ihr Kronenschmuck war Flitter.
Wir haben nur die Faust erhoben,
da ist der ganze Spuk zerstoben.

Es rasseln zwanzig Fürstenkronen.
Die erste Arbeit ist geschafft.
Doch, Kameraden, nicht erschlafft,
soll unser Werk die Mühe lohnen!
Noch füllen wir den Pfeffersack,
auf ihr Geheiß, den Reichen;
noch drückt das Unternehmerpack
den Sporn uns in die Weichen.
Noch darf die Welt uns Sklaven heißen ­
noch gibt es Ketten zu zerreißen.

Vier Jahre hat die Welt der Knechte
ihr Blut verspritzt fürs Kapital.
Jetzt steht sie auf, zum erstenmal
für eigne Freiheit, eigne Rechte.
Germane, Römer, Jud und Ruß
in einem Bund zusammen ­
der Völker brüderlicher Kuß
löscht alle Kriegesflammen.
Jetzt gilt’s die Freiheit aufzustellen. ­
Die rote Fahne hoch, Rebellen!

Trutzlied

Nennt uns nur höhnisch Weltbeglücker,
weil wir das Joch der Unterdrücker
nicht länger dulden und die Schmach.
Lacht nur der neuen Ideale,
leert auf die alten die Pokale ­
Wir geben nicht nach!

Legt nur die Stirn in ernste Falten,
schreckt auf im Bette ungehalten
und scheuert euch die Augen wach.
Flucht auf die unerwünschte Störung,
reißt ’s Fenster auf und schreit: Empörung!
Wir geben nicht nach!

Setzt euch nur auf die Geldkassette,
daß Gott die arme Seele rette
aus Not, Gefahr und Ungemach ­
und ruft nach euern guten Geistern,
nach Polizei und Kerkermeistern ­
Wir geben nicht nach!

Daß den Verrat der Teufel hole,
langt nur die Repetierpistole
samt den Patronen aus dem Fach,
und schmückt den Hut mit der Kokarde
der geldsacktreuen weißen Garde ­
Wir geben nicht nach!

Laßt Volkes Blut in Strömen fließen,
laßt uns erhängen und erschießen,
setzt uns den roten Hahn aufs Dach.
Laßt Mörser und Haubitzen wüten,
um euer Diebesgut zu hüten ­
Wir geben nicht nach!

Laßt euer Höllenwerkzeug toben!
Die Sehnsucht selbst hat sich erhoben
des Volks, das seine Ketten brach.
Freiheit und Recht stehn auf der Schanze.
Sieg oder Tod ­ jetzt geht’s ums Ganze! ­
Wir geben nicht nach!

Zuversicht

Mag auch der Kerkerketten Bleigewicht
den Körper manchmal an den Boden zwingen ­
Genossen, Mut! Die stärkste Kette bricht
und mit ihr jede Not;-nur eine nicht:
die Mattigkeit geknickter Seelenschwingen.
Spürt ihr die Sonne durch die Nebel dringen?
Ihr Strahlenbohrer schweißt das Kerkertor.
Gebt acht ­ die Fesseln lockern sich, Genossen!
Dem Auge kommt das Blickfeld weiter vor;
entwöhntes Klingen rauscht vertraut ans Ohr.
Die Zukunft, von Vergangenem umflossen,
strafft unsre Seelenfittiche: Empor!

Vermächtnis

Ihr Kameraden der Not,
hört mein Gebot!
Hört mein Vermächtnis!
Es kommt die Zeit, da das Feuer loht,
da die Welt sich befreit,
daß das Leben in lockenden Sprachen spricht.
Vergeßt eure Not, eure Leiden nicht!
Ich lehr euch: Gedächtnis!

Ihr Kameraden der Haft,
schont eure Kraft!
Bändigt die Sorgen!
Was Wut und Scham eurer Leidenschaft,
euerm Willensdrang nahm,
was Leids sich im Herzen euch häufen mag:
es wird alles gebraucht für den kommenden Tag.
Spart’s auf für das Morgen!

Ihr Kameraden der Nacht,
steht auf der Wacht!
Lernt von den Bütteln!
Was Haß euch lehrt und mißbrauchte Macht,
sei gepflegt und vermehrt.
Ein Altar aus verwartetem Ekel und Groll,
von der Liebe entbehrten Küssen voll ­
wer will daran rütteln?!

Ihr Kameraden im Tod,
hört mein Gebot!
Mein letztes Vermächtnis!
Bald wird vielleicht uns das Henkerbrot
in den Kerker gereicht.
Dann segnet das Blut, das dem Leibe entrinnt!
Es fließt zur Jugend, die Rache sinnt ­
und lehrt sie: Gedächtnis!